Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn
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Ibn Taymiyya führt aus:
Der Unterschied zwischen den Methoden des Koran und des Kalam besteht darin, dass Allah gebietet, Ihm zu dienen, ein Dienst, der die Vervollkommnung der Seele, ihr Wohlergehen und ihr höchstes Ziel ist. Er beschränkte ihn nicht auf die bloße Affirmation [Bestätigung; tasdīq] von Ihm, worauf die Kalam-Methode abzielt. Diese beiden (Methoden) stimmen nicht überein, weder in den Methoden noch in den Zielen. Die koranische Methode ist, wie gesagt, intuitiv und direkt (fitriyya qarība), indem sie zum Wesen des Ziels führt, (wohingegen) die andere analogisch und umwegig (qīyasiyya baʿīda) ist, indem sie nur zu (einer Kenntnis) der Form des Ziels und nicht seines Wesens führt.
Was die Ziele betrifft, so übermittelt der Koran Wissen von Ihm und Dienst an Ihm. Er verbindet somit die beiden menschlichen Vermögen des Wissens und Handelns; oder Empfindung und Bewegung; oder perzeptiven Willen [perceptive volition] und Tätigkeit; oder Verbales und Praktisches. Wie Allah sagt: »Diene deinem Herrn«. Dienst beinhaltet notwendig Wissen von Ihm, Buße und Demut vor Ihm und Bedürfnis nach Ihm. Das ist das Ziel. Die Kalam-Methode gewährleistet nur den Nutzen der Affirmation und Anerkenntnis der Existenz Allahs. (89; Ibn Taymiyya, Madschmūʿ fatāwā, 2: 12)
Die Offenbarung selbst verfügt über rationale Grundlagen, die dem Gehalt ihrer Botschaft angemessen sind und Menschen mit unterschiedlicher Bildung zufriedenstellen können. Sie beinhaltet auch die erforderlichen Belege für die Grundlagen der Religion (usūl ad-dīn) und bedarf daher keiner weiteren Theorien theologischer oder philosophischer Art.
Rationale Beweise für die Existenz Gottes und die Auferstehung, die auf der Betrachtung der natürlichen Welt basieren, finden sich beispielsweise in einer Reihe von Koranversen. Die Mutakallimun gebrauchen abstrakte Methoden, um zu den gleichen Schlussfolgerungen zu gelangen, welche die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft übersteigen. Dazu gehört etwa das kosmologische Argument (dalīl al-hudūth), das, grob gesagt, auf der Annahme basiert, dass die Kette von Ursachen und Wirkungen nicht endlos zurückgehen kann und somit einen Anfang erfordert, der mit Gott als erster Ursache oder Schöpfer gleichgesetzt wird. Dieser Beweis führt allerdings die Schwierigkeit mit sich, einerseits Gottes Ewigkeit und Unveränderlichkeit und andererseits Gottes Verursachen oder Erschaffen der Welt in der Zeit miteinander in Einklang zu bringen. Die muslimischen Philosophen in der aristotelischen Tradition versuchten beispielsweise das Problem dadurch zu lösen, dass sie die Ewigkeit der Welt annahmen.
Ibn Taymiyya lehnt die Ewigkeit der Welt ab, wie schon al-Ghazālī vor ihm in seinem philosophiekritischen Werk Tahāfut al-falāsifa (Inkohärenz der Philosophen). Darin stimmt er mit den Mutakallimun überein, welche die von den Philosophen vertretene These von der Ewigkeit der Welt ebenso verwerfen. Seine Kritik richtet sich allerdings auch gegen die Mutakallimun, da diese jede Ursache und jeden Zweck in der Schöpfung bestreiten.
Ibn Taymiyya versucht diese beiden Ansätze miteinander zu verbinden, indem er annimmt, dass Gott die Geschöpfe durchaus mit Absicht und Zweck ins Dasein bringt, und zwar durch Seinen unbegrenzten Willen und Macht. Während Ibn Taymiyya die Ewigkeit für jedes erschaffene Wesen ablehnt, erkennt er aber die Ewigkeit der Schöpfung selbst an, nicht im Sinne einer Ursache, sondern der fortgesetzten Schöpfungstätigkeit Gottes.
Der kosmologische Beweis zeigt bestenfalls die Notwendigkeit einer ersten Ursache (bzw. eines Schöpfers) auf, deren weitere Eigenschaften aber unbestimmt bleiben, so dass in Wirklichkeit kaum von einem Beweis der Existenz Allahs die Rede sein kann. Im Koran hingegen ist die Existenz Allahs in der Erschaffung der konkreten und wahrnehmbaren Entitäten (aʿyān) durch Allah fest gegründet. Ibn Taymiyya betont die Bedeutung der Zeichen (āyāt) Allahs in der Schöpfung. Diese Zeichen können überall in der Natur und im Menschen selbst von jedem ohne große Mühe gefunden, betrachtet und verstanden werden. Im Vergleich dazu ist, so Ibn Taymiyya, der Kalam-Beweis hingegen wie ein mageres Häuflein von Kamelfleisch jenseits eines Berges, der Berg unerreichbar, das Fleisch nicht der Mühe wert (siehe Madschmūʿ fatāwā, 2: 22).
Das Wissen von der Existenz Allahs stammt Ibn Taymiyya zufolge überdies aus der inneren Natur und Veranlagung des Menschen (fitra). Dieses Wissen macht die Kalam-Beweise überflüssig. Diese können gar nicht wirklich als Beweise für das Dasein Allahs verstanden werden, wenn nicht ein vorausgehendes Wissen um und Glauben an Allah vorausgesetzt wird. Nach Ibn Taymiyya ist die Erkenntnis und Anerkennung Allahs in die Herzen aller Menschen gelegt worden.
Der Begriff der fitra bezieht sich auf den Koranvers 30: 30, in dem es heißt: »in Übereinstimmung mit der natürlichen Veranlagung (fitra), die Gott den Menschen eingegeben hat (fatara)«. fitra bezeichnet die reine und ursprüngliche Natur und Veranlagung des Menschen. Dazu gibt es auch einen bekannten Hadith, der besagt: »Jedes Kind wird in seiner natürlichen Veranlagung (fitra) geboren; es sind nur seine Eltern, die es später zu einem ›Juden‹ oder ›Christen‹ oder ›Magier‹ machen.« Diese ursprüngliche Veranlagung birgt die intuitive Erkenntnis Allahs und führt somit zum Islam, kann aber auch durch äußere Einflüsse entstellt werden. Einige Denker wie z.B. al-Ghazālī hatten der fitra bereits einige Aufmerksamkeit geschenkt, aber erst Ibn Taymiyya maß ihr eine wirklich zentrale Bedeutung bei.
Ibn Taymiyya hat im Gegensatz zum Kalam stets die enge Beziehung von Glauben und Handeln betont, die eine Verbindung zwischen der wahrnehmbaren und der verborgenen Welt herstellt. Es ist kein Zufall, dass die Propheten ihren Ruf zur Religion mit dem Dienst an und der Liebe zu Allah begannen und eben nicht mit »rationalen Beweisen«. Die Wurzeln des Glaubens liegen in der Anerkennung der Grundlagen der Religion, die einhergeht mit der Verpflichtung zur Befolgung der sich daraus ergebenden Gebote in allen Belangen des täglichen Lebens.
Ein weiteres Beispiel für den Unterschied zwischen der koranischen und der Kalam-Methode ist die Behandlung der leiblichen Auferstehung. Während die Mutakallimun die theoretische Möglichkeit der Auferstehung zu beweisen versuchen, vergleicht der Koran sie mit dem Schöpfungsakt, um so an ihrer Möglichkeit und Wirklichkeit keinen Zweifel zu lassen.
Ibn Taymiyya übt auch Kritik an der Position des Aschʿarismus hinsichtlich der Handlungen Gottes, der es vermeidet, diese, wie etwa das Erschaffen (khalq) oder das Gewähren von Versorgung (tawdhīh ar-rizq), mit einem höheren Grund (ʿilla), Zweck oder Weisheit (hikma) zu verbinden. Die Aschʿariten befürchteten dadurch den Willen und die Macht Gottes unzulässig einzuschränken. Sie nahmen außerdem an, dass eine erschaffene Ursache zu einem infiniten Regress (tasalsul) führen müsse. Im Gegensatz dazu gingen wiederum die muslimischen Philosophen davon aus, dass Gott als erste Ursache die Kette von sekundären Ursachen anstößt, die sodann ihren determinierten und notwendigen Verlauf nehmen.
Nach Ibn Taymiyya ist hingegen das Handeln Allahs durch Weisheit bestimmt und steht im Einklang mit Seinen Zielen und Zwecken, wodurch Sein Willen und Seine Macht keineswegs eingeschränkt werden. Ibn Taymiyya strebt danach, ein alternatives Modell zum Okkasionalismus der Aschʿariten wie auch zum Determinismus der falāsifa zu entwickeln.
Darüber hinaus kritisiert Ibn Taymiyya die aschʿaritische Theorie des menschlichen Handelns, nach der Gott die menschlichen Handlungen erschafft, wobei der Mensch seine Handlungen lediglich erwirbt (kasb), was Ibn Taymiyya gleichwohl als – wenn auch modifizierten – Determinismus erachtet. So stimmen die beiden scheinbar gegensätzlichen Positionen der Aschʿariten und falāsifa doch letztlich in der Frage des Determinismus und der Verwerfung der menschlichen Handlungsfreiheit überein.
Für Ibn Taymiyya hingegen sind die Menschen die wirklichen Täter ihrer Handlungen im vollen Sinne, ausgestattet mit Willens-