Überall ist Asgard. Ulf Angerer

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Überall ist Asgard - Ulf Angerer

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ihre Küste und sie nennen ihn Kreide. Mit dieser Kreide haben wir den Innenraum des Pfahlkreises geweißt. Der Kreis wurde von einer unberührten Maid abgeschritten und umfasst genau 365 ihrer Schritte – für jeden Tag des Jahreskreises einen Schritt. An der Außenseite umgibt ein breiter Hochweg aus schweren Holzbohlen den Pfahlkreis. Auf ihm stehen die Menschen unseres Stammes, um in den Innenraum sehen zu können.

      Der so umfriedete Platz hat zwei große Tore. Eines zeigt zum Sonnenaufgang, das Zweite zum Sonnenuntergang. Sie liegen sich genau gegenüber. Heute, am heiligen Tag der Sommersonnenwende, betreten und verlassen wir den Platz nur durch das Tor an der Sonnenaufgangsseite. Die Mittagszeit ist angebrochen, und die Sonne nähert sich dem höchsten Punkt, den sie im Jahreskreis erreichen wird. Genau in diesem Moment muss das Opfer erbracht werden.

      Golon, der Jahre später mein verehrter Lehrer werden soll, betritt den Kreis. Er ist nackt. Sein Körper ist von oben bis unten mit Kreide geheiligt und symbolisiert für alle sichtbar die erhabene Reinheit des Goden. Adlerschwingen gleich breitet Golon die Arme aus.

      Er dreht sich in alle Richtungen des Himmelrades und ruft:

      Götter des Nordensich sehe euch!

      Götter des Ostensich sehe euch!

      Götter des Südensich sehe euch!

      Götter des Westensich sehe euch!

      Wieder dreht er sich:

      Götter des Nord-Ostensich sehe euch!

      Götter des Süd-Ostensich sehe euch!

      Götter des Süd-Westensich sehe euch!

      Götter des Nord-Westensich sehe euch!

      Golon vollführt eine ganze Drehung um seine Körperachse:

      Geschöpfe in Midgardich sehe euch!

      Er öffnet seine Arme zum Himmel:

      Götter in Asgardich sehe euch!

      Er öffnet seine Arme zur Erde:

      Götter in Utgardich sehe euch!

      Golon kniet nieder:

      Götter allhierseht mich!

      Götter allhierseht uns!

      Auf dem Hochweg haben alle Stammesmitglieder Aufstellung genommen.

      Zwölf Mondkreise hat ein Sonnenkreis. Zwölf tapfere Mannen schlagen zwölf riesige Trommeln zwölf Mal im Zwölferzyklus.

      Die ersten sechs Durchläufe sind den sechs Mondphasen gewidmet, die zwischen den Sonnenwenden verstreichen. Die siebte Zwölferkette symbolisiert die erste Mondphase des neuen Halbjahreszyklus. Sie spielt eine ganz besondere Rolle in den Zeremonien unseres Volkes, denn sie erinnert an die ständige Erneuerung, an den Neuanfang, der jedem Ende innewohnt. Wir haben unzählige Geschichten, in denen die Sieben eine Rolle spielt – sieben Lämmer, sieben Vögel, sieben Recken oder Jäger. Immer sind sechs von ihnen in unrettbare Situationen geraten und der siebte, meist jüngste oder kleinste, rettet seine Gefährten aus der Not.

      Während der achten Trommelstrophe führt eine unbefleckte Maid einen kräftigen Stier in den Ring. Sie trägt ein Gewand aus Blumen, und Blumen umkränzen ihr langes blondes Haar. Der Stier ist weiß wie Schnee. Weiße Stiere leben nur für diesen einen Tag. Immer, wenn eines unserer braunschwarzen Rinder ein weißes Bullenkalb gebiert, wissen wir, dass die Götter uns ihre Huld geschenkt haben und dass es unsere Aufgabe ist, dieses eine himmlische Wesen zwölf Jahre zu hüten, um es dann den Göttern zurückzugeben. Wir hegen und pflegen es stellvertretend für all die anderen Tiere, die die Götter uns schenken. Jedes Jahr wird mindestens ein weißes Kalb geboren. Sind es mehr, hüten wir sie alle und opfern den Göttern das kräftigste von ihnen.

      Golon und der Stier stehen sich nun Auge in Auge gegenüber. In der neunten Runde schlagen die Trommeln zwölf Mal. Der gleichmäßige Ton und das reine Weiß alles Sichtbaren beruhigen das Tier. Nicht den geringsten Anflug von Angst darf es verspüren.

      In den zehnten Zyklus zu weiteren zwölf Trommelschlägen stimmen die Kinder ein:

       HOW – HOW – HOW…

      Ihre hohen Stimmen ergänzen und bereichern den tiefen Schall der Trommelschläge:

       HOW – HOW – HOW…

      Die elfte Strophe mit zwölf Schlägen – nun singen Kinder und Frauen:

       HOW – HOW – HOW…

      Der Gesang erreicht seinen Höhepunkt in dem Moment, in dem die Trommeln zum letzten, zum zwölften Mal, erklingen. Der Jahreskreis schließt sich in ihrem markerschütternden Hall. Zwölf Schläge, zu denen nun auch die tiefen Bässe aller Männer erklingen:

       HOW – HOW – HOW…

      Der gesamte Stamm ist nun gebunden in diesen einen heiligen Gesang. Stimmen, Atem und Herzschläge finden zusammen und bilden ein einziges mächtiges Wesen. Der stärkste unserer Recken ist, von dem Stier unbemerkt, neben das Tier getreten. Weit erhebt er sein scharfes Schwert, während die letzten zwölf Trommelschläge über dem Ring schweben. Beim letzten Schlag, beim letzten HOW saust das Schwert auf den Hals des weißen Stiers nieder. In einem einzigen Augenblick fällt der riesige, hornbewehrte Schädel zu Boden.

      Der kopflose Stier steht noch immer vor Golon, der von einer tiefroten Fontaine getroffen wird. Das geheiligte Blut des Tiers fängt sich in einer goldenen Schüssel, die auf dem Boden vor Golon steht. Er hebt die Schale auf und trägt sie durch das Tor des Sonnenaufgangs. Alle Stammesmitglieder verlassen den Hochweg und reihen sich hinter Golon – die Hälfte der Männer zuerst, nach ihnen die erste Hälfte der Frauen, dann die Kinder. Ihnen folgt die zweite Hälfte der Frauen und am Ende des Zuges die zweite Hälfte der Männer. So ziehen wir, nach außen stark, für die Zukunft in der Mitte, die es zu schützen gilt. So zieht der Stamm zu den Feldern am Rand der Siedlungslichtung. Wir erreichen das Feld und stellen uns reihum auf. Wir beginnen wieder zu singen:

      HOWHOWHOW…

      Unter unserem Gesang tränkt Golon den Boden mit heiligem Blut.

      Das Opferritual ist zu Ende.

      Es ist Mittag. Die Sonne hat den allerhöchsten Stand für dieses Jahr erreicht.

      Das Opferfest kann beginnen.

      Wie in den Tausenden und Abertausenden Sonnenumläufen zuvor, begehen wir das große Fest des ewigen Wandels. Der längste Tag des Jahres taucht in die kürzeste Nacht. Noch immer opfern wir den Göttern und danken für die Gaben der vergangenen Monde. Wir bitten um eine reiche Ernte und essen und trinken zügellos.

      ~

      So ist es damals gewesen, und so war es auch in all den Jahren davor. Viele Sonnenumläufe sind seither vergangen – und doch hat sich während der letzten etwas verändert. Die Feste, die wir für die Götter feiern, haben langsam ihren tieferen

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