Lucy fällt. Gaby Mrosek
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Gaby Mrosek
Lucy fällt
© 2020 Gaby Mrosek
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN | |
Paperback: | 978-3-347-04955-0 |
Hardcover: | 978-3-347-04956-7 |
e-Book: | 978-3-347-04957-4 |
Coverbild: Michael Mrosek
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Ich widme dieses Buch dir,
denn es ist kein Zufall,
dass du diese Worte gerade liest…
On top of the roof— Der Sprung
Lucy rennt.
Lucy rennt vorbei an sämtlichen Weihnachtsmarktständen und Massen an Menschen. Wie sie es schafft, sich in hohem Tempo durch die Menge zu bewegen, weiß sie nicht.
Und es ist ihr egal. So egal, wie auch sie den Passanten egal ist, die ihr keinerlei Beachtung schenken – es sei denn, sie rempelt den einen oder anderen unsanft an. Von diesen Im-Weg-Stehern wird sie entweder beschimpft oder leise kopfschüttelnd verurteilt.
Natürlich – denn Lucy nimmt keine Rücksicht und bemerkt nicht einmal, dass sie einen alten Mann beinahe zu Boden reißt. Der wird glücklicher Weise noch rechtzeitig von seiner Begleitung aufgefangen.
Lucy hat keinerlei Zeitempfinden und spürt ebenso keinen Erschöpfungszustand, der sich irgendwann bei jedem noch so guten Läufer einstellt. Es scheint so, als sei sie plötzlich völlig gefühllos und ferngesteuert. Ihr Körper funktioniert ganz einfach. Das einzige, was sie klar in ihrem Geist sieht, ist das Hochhaus. Dieses 21 Stockwerke hohe heruntergekommene Haus am Stadtrand. Da hat alles begonnen – da soll alles enden.
Die Straßen werden leerer. Längst schon hat sie die noble Innenstadt verlassen. Jetzt steuert sie direkt auf das Ghetto zu. Viele Laternen gibt es hier nicht, die ihr den Weg erhellen könnten. Aber das macht gar nichts. Lucys Gehirn ist auf Autopilot geschaltet.
Kurz bevor sie den Haupteingang des Hochhauses erreicht, schießt der Schmerz wieder ein – mitten in ihr Herz. Dieser Schmerz des tiefen Verlustes, der Trennung, den sie für die Zeit des Rennens vorübergehend einfrieren konnte. Jetzt dringt er in ihren Bauch, um noch einmal hinterrücks, wie eine bedrohliche Welle, über ihr zusammenzuschlagen. Nun hat er sie komplett vereinnahmt. Ihr wird speiübel und sie muss würgen. Schließlich erbricht sie sich auf dem mit Kaugummi und Hundekot übersäten Gehsteig. Ein leises Wimmern kommt aus ihrer Kehle, während sie ihren Weg wieder aufnimmt. Nicht schnell dieses Mal. Nein, ganz langsam schleicht sie zum Eingang. Sie muss auf keinen der vielen Klingelknöpfe drücken - die Tür ist lediglich angelehnt. Sehr viele Wohnungen sind auch gar nicht mehr bewohnt, denn dieses Gebäude ist alles andere als heimelig.
Lucy atmet schwer. Der Marathon ist doch nicht unbemerkt geblieben. Sie sucht im Treppenhaus nach dem Lichtschalter. Als sie ihn findet und drückt, stellt sich heraus, dass nicht einmal das Licht funktioniert.
Plötzlich sieht sie das Gesicht ihrer Mutter vor dem inneren Auge. Dieses runde und schöne lächelnde Gesicht. Es sagt die Worte: „Lucy – die Lichtträgerin. Deshalb haben wir dich so genannt. Sei ein Licht für alle…“
Sei ein Licht für alle – sie kann nicht einmal im Hausflur die Lampe einschalten! Wut und Trauer wollen sie wieder übermannen. Stattdessen atmet sie tief ein und wieder aus und trommelt dabei heftig auf den Knopf des Aufzugs. Der setzt sich sogleich in Bewegung.
„Wenigstens etwas funktioniert hier“, murmelt sie und steigt zügig in das alte Ding. Ohne zu überlegen drückt sie die 21. Beinahe menschlich keuchend rappelt der Lift nach oben.
„Meine letzte Fahrt“, denkt Lucy und fühlt dabei nichts – allerhöchstens einen feinen Sarkasmus. Sarkasmus, weil sie weiß, dass diese letzte Fahrt, in einem grauen hässlichen Kasten, ein guter Ausdruck für ihr verpfuschtes Leben ist.
Mit einem Ruck hält der Aufzug an, und Lucy folgt wie hypnotisiert dem schmalen schmuddeligen Gang Richtung Metalltür. Diese Metalltür führt zum Dachaufstieg. Lucy kennt jeden Winkel im Haus und so versucht sie gar nicht den Lichtschalter hier oben zu betätigen. Die Dunkelheit ist das, was sie jetzt braucht. Sie drückt die eiskalte Klinke nach unten und zieht schwer daran. Unter unangenehmem Quietschen lässt sich die Tür öffnen. Lucy tritt nach draußen in die Kälte. Ein paar Stufen noch die Metalltreppe hinaufgestiegen, und sie steht tatsächlich auf dem Dach des Hochhauses. Der mit Abstand höchste Punkt, den die Stadt zu bieten hat. Einen kurzen Augenblick bleibt sie starr stehen und schaut in den Himmel hinauf. Über ihr funkeln tausende Sterne. Hier oben kann man das Weltall besonders gut beobachten, weil in dieser Höhe keine anderen Lichter blenden.
Das hat sie als Kind schon so oft getan. Immer wenn es für sie brenzlig wurde, ihre Eltern ihren täglichen Machtkampf austrugen oder ihr Leben ein einziges unerträgliches Chaos war, schlich sie hier her. Meistens war es schon finster oder sie blieb bis sich die ersten Sterne zeigten.
Lucy zögert, doch dann geht sie zu dem Mäuerchen – weiß der Teufel warum es überhaupt da steht und das schon seit sie denken kann – lässt sich auf den kalten Betonboden sinken und lehnt sich an.
Sie will noch einmal auf ihrem alten Platz über ihre Absicht nachdenken. Es soll keine Kurzschlusshandlung sein, auch wenn alles was kurz davor geschah, ein einziges Weglaufen und irres Durchdrehen war. Das war es schon, aber der Plan, ihrem Leben am unerträglichsten Punkt ein Ende zu setzen, war bereits seit ihrer Kindheit in ihr. Er war wie eine tickende Zeitbombe.
Sie atmet tief ein und aus, spürt die Kälte in ihre Glieder kriechen. Dann steht sie mit Schwung auf und sagt laut und bestimmt: „Dann bringen wir es jetzt zu Ende…“
Einige große Schritte, und Lucy steht vor dem niedrigen Gitter. Es ist ein Leichtes für sie, dort hinüberzusteigen. Sie denkt keine Sekunde darüber nach, dass sich nur zwei Fußlängen vor ihr der Abgrund auftut.
21 Etagen – nein, es sind sogar 22, denn sie steht ja auf dem Dach…
„22…. Wie bittersüß…“, murmelt sie, weil ihr zum ersten Mal bewusst wird, dass es sich um diese magische Doppelzahl handelt. Die Seelenpartner-Zahl…
„Ich sollte nicht hier oben stehen…“, flüstert sie, „wieso bin ich nicht bei Raffael?“
Für einen kurzen Augenblick glaubt sie, ihn zu spüren. Und es ist alles gut. Doch dann sieht sie die Szene vom späten Nachmittag. Wie ein Film spult sich alles vor ihrem inneren Auge ab. Sie sieht seine harten Gesichtszüge, seine zu Schlitzen verengten Augen….
Jetzt hört sie ihn sagen: „Lucy, das mit uns wird niemals einen Sinn ergeben. Geh jetzt besser!“
Sie fühlt wie ihr ein Messer ins Herz gestochen wird. Unerträgliche Schmerzen!
„Ich brauche ein Wunder!“, schreit sie plötzlich in den dunklen Himmel. Mit festem Blick starrt sie in die vielen funkelnden