Lucy fällt. Gaby Mrosek

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Lucy fällt - Gaby Mrosek

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paar Sekunden noch wartet sie. Aber nichts passiert.

      Verzweiflung steigt wieder in ihr auf.

      Sie schaut nach unten – doch da ist keine Angst, kein Zurückweichen. Dieser Schmerz… keine Sekunde länger will sie ihn dulden. Ohne weiter darüber nachzudenken, macht sie einen Schritt nach vorne, hinein in den Abgrund.

      Lucy springt.

      21. Etage – Das Wunder

      Lucy befindet sich im freien Fall.

      Kopflos – völlig ohne eine Idee oder einen Gedanken – dazu geht alles viel zu schnell. Schneidiger Wind pfeift um ihr Gesicht. Doch sie bemerkt nicht einmal das.

      Sie denkt nichts und fühlt nichts in dieser Schrecksekunde des plötzlichen Fallens.

      Und es ist wirklich nicht viel mehr als eine Sekunde. Denn ganz abrupt wird ihr Fall unterbrochen und zwar genau in der 21. Etage. Ebendort stoppt ihr Körper in einer unangenehmen Schräglage, die sie beinahe kopfüber hängen lässt. Tausend und abertausend Gedanken schießen gleichzeitig durch ihren Geist. Ein dickes Fragezeichen bleibt stehen. Kurz überlegt sie, ob sie längst unten auf dem Boden aufgeschlagen und schon tot ist und nun in einem schrecklichen Höllenstadium gefangen gehalten wird.

      Es dauert tatsächlich nur einen Augenblick. Die schlimme Unsicherheit und der Wahnsinn dahinter, dass hier etwas physikalisch Unmögliches passiert, kommen ihr aber unendlich vor. Sie will außer sich vor Furcht und Schrecken zappeln und schreien, aber es scheint, als könnte sie ihren Körper nicht mehr steuern. Bevor ihre Angst in unerträgliche Panik umschlägt, geschieht etwas noch Ungewöhnlicheres – etwas mit dem sie nicht annähernd gerechnet hätte, ebenso wenig wie zuvor mit dem Steckenbleiben im freien Fall:

      Die dunkle Straße tief unter ihr sowie das graue Gebäude, dessen Fassade sie berühren könnte, wenn sie die Hand danach ausstrecken würde, beginnen zu verschwimmen. Sie verwirbeln ineinander, zusammen mit dem sternenklaren Nachthimmel. Es scheint, als würden alle Bilder um sie herum eingesogen werden, so wie wenn das Wasser aus der Badewanne in einem Strudel abfließt. Und nicht nur die Szenerie, um sie herum, wird eingesogen. Nein, auch sie selbst, ihr Körper, ist ein Teil davon. Sie kann ihn plötzlich sehen und zwar so deutlich, dass sie meint, sie schaue in einen Spiegel. Doch auch das währt nur eine Sekunde. Denn schon sind alle materiellen Dinge ein einziger Kreisel aus Farben, die sich langsam zu einer einzigen homogenen Farbe vermischen. Auch wenn das Wort Farbe es nicht annähernd trifft.

      Normalerweise ist es so, dass viele Farben ineinander gerührt und verquirlt, einen schmutzigen Braunton ergeben. Hier ist es umgekehrt. Anstatt Dunkelheit, ist eine aufdämmernde Helligkeit zu erkennen. Es wird heller, zunächst gelblich und schließlich strahlend weiß. Und auch das nimmt Lucy nicht wirklich als Farbe wahr, sondern als ein einziges einladendes Licht. Alle Angst weicht plötzlich einer tiefen Gewissheit, dass alles gut und richtig ist. In diesem wunderbar leichten Zustand, in dem sie sich schon lange nicht mehr befand, gibt es keine Fragen mehr.

      Sie ist jetzt am richtigen Ort und zur richtigen Zeit! So könnte es bleiben - tut es aber nicht!

      So augenblicklich Lucy mit diesem Licht zu einer Einheit verschmolz, genauso rasch nimmt sie alles um sich herum wieder wahr. Da sind sie wieder, all die Bilder der Formen und Farben. Und dennoch ist etwas anders. Lucy hängt noch immer in unbequemer Schräglage. Doch unter ihr, keine 20 Zentimeter tief, ist fester Boden. Kein Asphalt, keine schmuddelige finstere Straße. Nein, eine saftige grüne Wiese fängt sie sanft auf. Denn Lucys Fall wird hier nun beendet. Obwohl sie mit den Schultern und dem Kopf zuerst auf das Gras trifft, tut sie sich nicht weh. Die Erde federt sie weich wie eine Matratze ab. Und der Fall erfolgt zeitlupenähnlich. Sie liegt mit geschlossenen Augen da und fühlt wie die Grashalme in ihrem Gesicht kitzeln. Jetzt kann sie sich auch wieder bewegen und ihren Körper spüren.

      Noch hat sie nicht den Mut, ihre Augen zu öffnen und nachzuschauen, was da eigentlich mit ihr passiert ist. Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie tot sein muss. Denn die Fakten in ihrem Kopf sagen es deutlich.

      Erstens ist sie vom Dach des Hochhauses gesprungen.

      Zweitens sind während des Fallens merkwürdige Dinge geschehen, die unmöglich real sein können.

      Drittens kann es durchaus sein, dass sie im freien Fall ohnmächtig geworden ist. Ein Selbstschutz sozusagen, um dadurch den schrecklichen Aufprall und die Erfahrung des Sterbens nicht bewusst erleben zu müssen.

      Viertens hat sie Licht gesehen und war für einen Moment ganz frei und unsagbar froh.

      Doch was ist jetzt? Wieso kann sie jetzt ihren Körper wieder fühlen? Sie spürt die leichte Übelkeit von vorhin in ihrem Magen. Sie fühlt den seelischen Schmerz. Diesen Trennungsschmerz. Verlustschmerz. Sie fühlt die kalte Wiese in Gesicht und an den Händen. Vorsichtig und ängstlich öffnet sie ihre Augen. Sie hebt den Kopf und blickt direkt auf einen hohen Berg. Irritiert setzt sie sich auf und wendet ihren Blick rundherum. Ja, sie sitzt auf einer Alm Wiese. Um sich herum ein Bergmassiv. Schäfchenwolken ziehen über den strahlend blauen Himmel hinweg.

      Lucys Herz klopft bis zum Hals. Sie steht auf und dreht sich einmal um die eigene Achse. Dann schaut sie an sich hinunter und erkennt auf der schwarzen Winterjacke die Spritzer ihres Erbrochenen.

      „Was ist das? Was soll das alles?“, fragt sie zunächst leise, um dann panisch in das Panorama zu schreien: „Hilfe! Wo bin ich?“

      Nichts ist zu hören und um sie nur Landschaft. Eine wunderschöne zwar, aber das ist in Anbetracht der Situation völlig egal. Wie zum Teufel kommt sie auf diesen unendlich hohen Berg?

      „Oh mein Gott“, schreit sie hysterisch, „ich wollte sterben! Nichts mehr fühlen! Nicht mehr leiden! Und jetzt bin ich tot und in einer beschissenen Zwischenwelt!“

      „Du bist nicht tot“, hört sie eine sachlich heitere Stimme hinter sich. Ihr Herz setzt für einen Moment aus, um dann doppelt so schnell zu rasen. Sie schießt herum und blickt direkt in die freundlichen Augen eines jungen Mannes.

      „Was mache ich hier? Was machst du hier? Wer bist du? Wie komme ich hierher?“, schießt es aus ihr heraus, ohne Punkt und Komma. Und dennoch ist da eine gewisse Erleichterung. Denn sie ist nicht allein. Der Mann, um die Mitte 20, ist äußerst attraktiv mit seinen mittelblonden wuscheligen Haaren und dem Dreitagebart. Außerdem lächelt er so lässig und einladend, dass sie sofort ein wenig beruhigter ist.

      „Hm“, macht er jetzt und berührt sanft ihren Arm. Ein warmer Schauer durchflutet ihren Körper. So etwas hat sie noch niemals erlebt.

      „Du wirst mir tausende und abertausende Fragen stellen wollen. Menschen sind so. Sie wollen alles ganz genau wissen. Sie bemerken nicht, dass hinter jeder dieser Fragen noch tausend andere stecken und dass es so unmöglich ist, die Wahrheit zu erfahren.“ Seine Stimme ist dunkel und erinnert sie an etwas Wunderschönes, längst Vergessenes.

      „Wer bist du? Und wie komme ich hierher?“, fragt Lucy zögerlich, weil seine kleine Ansprache über Fragen sie beeindruckt hat.

      „Das werde ich dir sagen, Lucy“, antwortet er und streicht ihr liebevoll über die Wange. Unendliche Liebe strömt sogleich durch sie hindurch.

      „Du kennst mich?“, stammelt sie verwirrt.

      „Natürlich kenne ich dich“, lacht er, und dieses Lachen ist keinesfalls besserwisserisch oder überlegen. Nein, es ist so liebevoll und tröstlich, dass sie für einen Moment im Gefühl der Sicherheit badet.

      Sie

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