Lucy fällt. Gaby Mrosek

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Lucy fällt - Gaby Mrosek

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in der du dich gerade zu befinden scheinst. Trink einen Schluck Tee. Das hast du in der Berghütte versäumt.“

      „Wie lange bin ich denn schon hier? Hier in deiner Küche und in der Hütte davor?“, fragt sie, weil sie überhaupt kein Zeitgefühl mehr hat. Es könnten 2 Stunden sein oder 20 Minuten.

      „Hm…“, überlegt er und blickt gespielt nachdenklich an die Decke, „in Anbetracht dessen, dass Zeit nur ein Taschenspielertrick ist, kannst du es dir aussuchen. Aber da du in deinem Traum der Lucy vom Hochhaus fällst und eben nur einen Schlenker im Raum-Zeit-Kontinuum machst, würde ich sagen: 5 Sekunden…“

      Lucy beginnt zu lachen. Zunächst leise und zurückhaltend. Dann kann sie aber nicht mehr an sich halten, und sie lacht laut und schallend. Es tut ihr so gut. Sie lacht einfach all ihre Sorgen davon. Zum ersten Mal seit langer Zeit – wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt in ihrem Leben – ist sie froh ohne an Vergangenheit oder Zukunft zu denken. Sie ist hier im Jetzt und das ist wunderbar.

      „Liebes, das ist wahrhaftig wunderbar. Manchmal muss man einfach alles davon lachen. Das gelingt dir aber erst, wenn du begreifst, dass alles was du mit menschlichen Augen siehst, nicht die Wahrheit ist. Dann kannst du vor Erleichterung lachen. Und da du in diesem Augenblick wahrlich bereit bist, schauen wir uns noch einmal die Muffins an, und auch den gesamten Teig. Verstehst du in diesem Zusammenhang, dass du nicht getrennt sein kannst von einem anderen? Verstehst du, dass die Trennung in Muffinförmchen nicht einen anderen Teig aus dir macht? Das geschieht nur in Illusionen. In deiner Welt hast du aus dir einen Menschen gemacht. Jemand der abgetrennt ist vom Ganzen. Ebenso abgetrennt wie mittlerweile beinahe 8 Milliarden. Dein Körper soll das Symbol der Trennung sein, die niemals wirklich stattfinden konnte…“

      „Weil der Schöpfer keine Muffins mag, sondern lieber einen ganzen Kuchen“, beendet Lucy den Satz, und Josua grinst breit.

      „Sehr vereinfacht, ja“, erwidert er, „weißt du Lucy, es ist in Wahrheit mehr Einheit da, als einfach nur ein Batzen Teig. Du bist tatsächlich ein Ganzes mit allen 8 Milliarden scheinbaren Teilchen. Und das, obwohl du nur einem winzig kleinen Bruchteil jemals begegnen wirst. Und vergiss nicht unsere Mission: Betrachtung und Heilung deiner Beziehungen zu allen. Zu jedem einzelnen. Zu dir also: Lass uns jetzt beginnen. Mit Raffael. Eine besondere Liebesbeziehung. Für dich sogar eine sehr besondere Liebesbeziehung.“

      „Josua, bitte“, flüstert sie und sticht alle fünf Finger der rechten Hand in den Teigklumpen der noch immer vor ihr liegt. Mit der linken Hand streicht sie eine lange blonde Strähne aus dem Gesicht.

      „Liebes“, raunt er zärtlich, „du hast um ein Wunder gebeten. Das Wunder ist jetzt da. Es ist für dich und nicht gegen dich. Wunder sind eigentlich nichts anderes als korrigierende Brillengläser. Du siehst richtig mit ihnen. Beginnst klar zu sehen. Ein Wunder nimmt allen Schmerz von dir, weil es dir zeigt, was in Wahrheit da ist, und es lässt alle Illusionen verschwinden. Willst du mir glauben? Dass du ein Ganzes bist mit jedem und allem? Du bist ein unersetzbarer Teil. Auch Raffael gehört dazu. Er ist du. Du bist er….“

      „Ich weiß“, seufzt sie und denkt an all die Bücher, die sie gelesen hat, an den Coach, den sie aufgesucht hat und auch an die vielen Videos auf YouTube.

      „Wir sind Seelenpartner, Dualseelen sogar…“, setzt sie leise zögerlich nach.

      „Wir schauen uns jetzt diesen Wunsch einmal genau an“, sagt er sanft.

      Dieser Satz sticht ihr ins Herz, ebenso wie all die anderen Herzstiche, die sie in Zusammenhang mit Raffael schon erfahren hat.

      „Das ist kein Wunsch!“, setzt sie ein wenig trotzig und sehr bestimmt nach.

      „Das ist die Wahrheit! Wir sind nämlich ein einziger.

      Eine einzige Seele in zwei Körpern….“

      „…die etwas gemeinsam und auch eine Zeitlang getrennt zu lernen haben, um dann schließlich in Liebe zu leben“, beendet er ihren Satz. Sie will weitersprechen. Doch er macht eine stoppende Handbewegung.

      „Besondere Liebe ist die größte Abwehr gegen die Wahrheit, Liebes. Denk an den Kuchenteig. Wenn du sagst, dass du zusammen mit einer einzigen anderen Person ein Ganzes bist, was ist dann mit allen anderen?“

      Er zieht den Teigklumpen zu sich hin und trennt eine Kugel daraus ab. Diese legt er vor Lucy.

      „Dieses Stück Teig seid also ihr – Raffael und du. Wieso nicht nur du oder Raffael und jemand anderes oder ihr beide und noch eine dritte, vierte, fünfte Person? Und was ist mit dem ganzen großen Rest? Den lässt du völlig außer Acht. Du beschäftigst dich ausschließlich mit dem Überbau, dem Sahnehäubchen. Mag sein, dass Raffael eine köstliche Buttercreme ist. Köstlich für dich, weil du auf Buttercreme stehst. Aber unter der Buttercreme ist er das, was du und alle anderen sind auch. Und mit Überbau ist nicht nur die Optik des Körpers gemeint. Nein, auch der Charakter, die ganze Art, die gesamte Rolle in einem Film, die eine überzeugende schauspielerische Leistung darstellen soll.“

      Josua schaut Lucy prüfend an. Sie schaut weg und verschränkt die Arme voreinander. Dann ist es zunächst ganz still.

      Schließlich sagt sie: „Ich weiß es doch auch nicht. Aber wieso ist diese Anziehungskraft so groß? Diese Magie? Und wieso tut es so weh, wenn ich nicht bei ihm bin? Und wenn er mit einer anderen Frau lieber zusammen ist? So tiefe Liebe habe ich noch bei keinem Menschen gefühlt und so schrecklichen Kummer noch bei keinem anderen empfunden. Wie kann das sein?“

      „Wie kann das sein, Liebes, dass du die Worte tiefe Liebe und schrecklichen Kummer in einem einzigen Satz benutzt? Liebe und Kummer können nicht nebeneinander bestehen bleiben. Das eine schließt das andere komplett aus“, sagt er langsam und blickt sie dabei zärtlich an. Lucy schaut in seine braunen Augen, die von innen heraus leuchten, so als sei ein warmes Licht in ihnen. Wieder hat sie eine plötzliche Erinnerung. Es ist nichts Greifbares, nichts, was sie als Bild oder Situation beschreiben könnte. Aber trotzdem ist es da, ganz real und eine tiefe Geborgenheit durchflutet sie. Das ist der Moment, in dem sie an ihrer Vorstellung von Liebe und Beziehung zweifelt. Noch nie gab es einen Zweifel bezüglich ihrer Romantik-Theorie. Unsicherheiten gab es schon. Unsicherheiten, wie sie sich jetzt verhalten sollte, was als nächstes geschehen müsste oder wie eine ideale Romanze aussah. Doch das Dualseelen- oder Seelenpartner-Konzept stand als Fundament stets da, seit sie Raffael vor fünf Jahren traf.

      Was, wenn Josua Recht hatte? Was, wenn sie durch die falsche Tür gegangen war?

      „Du kannst nicht durch die falsche Tür gehen. Du kannst lediglich auf dem Flur stehen bleiben, Lucy“, antwortet er auf ihre Gedanken. „Weißt du, Menschen glauben immer sie hätten tausend und abertausend Möglichkeiten. Das ist aber nur eine Fatamorgana. Es gibt tatsächlich nur zwei Dinge, die zur Auswahl stehen. Du kannst dich komplett für die Liebe, das Synonym für Wahrheit, oder die Angst, das Synonym für Illusion entscheiden. Die Auswahl, die es scheinbar in der Illusion gibt, führt dich durch keine Tür. Sich für den Traum zu entscheiden, ist gar keine richtige Entscheidung. Du zögerst nur hinaus und bleibst halt auf dem Flur.“

      „Und was genau heißt das jetzt für mich in Bezug auf Raffael?“, fragt sie ungeduldig.

      „Das, Liebes, heißt, dass du in ihm einen grandiosen und für dich perfekten Lernpartner gefunden hast. Nichts geschieht wirklich zufällig. Alles steht in deinem Drehbuch, und es gibt gewisse Begegnungen, die sind elementar wichtig für dein Lernen. Nenn jede Art von Begegnung einfach Lernebene. Denn es sind einfach nur Lernebenen. Manche bestehen jahrelang oder sogar ein scheinbares Menschenleben. Andere sind so kurz, dass du sie kaum wahrnimmst. Hat es dich noch

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