Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff
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Читать онлайн книгу Der Seele tiefer Grund - Beate Berghoff страница 10

Wieder nickte Ulrich.
„Warum habt Ihr mir nie was gesagt?“
Diese Frage hatte Heinrich auf der Zunge gebrannt.
Sein Verwalter verzog keine Miene als er antwortete: „Ich dachte, Ihr wisst es.“
Heinrich schüttelte den Kopf. Dann fragte er verzagt: „Und jetzt? Sowas kann man doch nie im Leben wiedergutmachen?“
„Ihr könntet es versuchen. Es ist nie zu spät.“
Heinrich war mutlos. So etwas Furchtbares konnte man nicht wiedergutmachen. Wo sollte er anfangen? Zumal er ja selbst im großen Hass auf diesen Jungen aufgewachsen war. Er musste seinen eigenen Unwillen überwinden und zusätzlich die Schuld seiner Familie tilgen. Am liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen.
Dann hatte er die rettende Idee: „Ich gebe ihn frei, sagt ihm das. Er ist frei und kann gehen, wohin er will.“
Ja, das war eine wunderbare Idee, Heinrich war stolz auf sich. Er würde Martin freigeben und ihm noch Reisegeld schenken, und dann würde der neugewonnene Halbbruder einfach verschwinden. Er wäre sicher glücklich drüber und Heinrich wäre ihn und die Schuld einfach los.
Aber Ulrich machte ihm einen Strich durch die Rechnung. „Es ist Januar und eiskalt. Wo soll er denn hin? Wo soll er mitten im Winter in Dienst treten? Außerdem ist er halbverhungert, so findet er nirgends eine Arbeit. Ihr müsst ihn mindestens bis Mai hierbehalten. Ihr könnt ihn nicht einfach wegschicken und ihm der Kälte und dem Hunger preisgeben.“
Heinrichs Mut sank wieder, Ulrich hatte Recht. Er konnte Martin frühestens Ende April rauswerfen, alles andere wäre sein Todesurteil. Ende April oder Anfang Mai, das waren noch fast vier Monate. Heinrich seufzte. Er würde Martin gut füttern und ihn dann mit einem gefüllten Geldbeutel wegschicken, und ihm bis Mai aus dem Weg gehen. Und wenn er ihm begegnete, würde er einfach freundlich zu ihm sein.
Der Verwalter dachte bei sich, dass es vermutlich wirklich das Beste sein würde, Martin gehen zu lassen. Allerdings mussten sie ihn vorher noch aufpäppeln und alles tun, damit ihn potenzielle Arbeitgeber nicht gleich wieder wegschickten oder, schlimmer noch, zurückbrachten. Ulrich blieb also sehr hartnäckig mit seinen Forderungen: „Was ist mit dem Halseisen, Heinrich? Soll er damit im Mai Rabenegg verlassen? Auf dem Eisen ist Euer Wappen drauf, die Leute werden ihn Euch immer wieder zurückbringen.“
Heinrich schluckte schwer. Das war das Letzte, was er wollte. Er gab nach: „Gut, dann lasst es ihm abnehmen. Ihr gebt ja eh keine Ruhe.“
Ulrich lächelte schwach, deutete eine Verbeugung an und ging.
Heinrich lehnte sich erschöpft zurück. Irgendwie wurde alles immer komplizierter. Er wollte einfach sein altes Leben zurück, aber er hatte die ungute Ahnung, dass das wohl nicht möglich sein würde. Zuviel war passiert. Zuviel hatte er erfahren, was sein Weltbild und seine Selbstgefälligkeit erschüttert hatte. Zuviel musste er nun durchdenken und wohl auch einfach hinnehmen. Sein Vater war ein Mörder, ein Lügner und ein Schuft gewesen. Heinrich fand keine Ruhe. Was, wenn alles, was sein Vater ihm beigebracht und gesagt hatte, auch nur Unwahrheit und dummes Zeug war?
Der Vater hatte ihm gesagt, dass ein echter Kerl nicht Streichpsalter spielte und sang. Warum eigentlich nicht? Der Vater hatte ihm auch gesagt, dass der Tod im Kampf ein erstrebenswerter Tod war. Warum war er selbst dann nicht im Kampf gestorben, sondern Zuhause am Wundbrand? Und sein Bruder Markwart, Heinrichs Onkel, war im Suff die Treppe hinuntergestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Wie heldenmütig.
Der Vater hatte ihm gesagt, dass Dienstboten faul und verlogen war und man hart mit ihnen umgehen musste. Was, wenn das auch nicht so war? Ja, was dann?
In Heinrichs Brust zog es. Was, wenn er selbst auch nur ein verlogener Drecksack war, und ein Mörder? Schließlich hatte er im Krieg genug Leute getötet. Aber das war ja Krieg, aus irgendeinem Grund schien das Töten im Krieg für die Kirche annehmbar, ja sogar gewünscht zu sein.
Sein Gehirn arbeitete pausenlos. Bruder Gernot, der frühere Pfaffe, der vor über vier Jahren an einem Blutsturz aus dem Schlund gestorben war, hatte ihm vom „Gerechten Krieg“ erzählt. Den gerechten Krieg hatte wohl vor vielen Jahren irgendein christlicher Denker erfunden, wie so viel anderen Unfug auch. Heinrich hatte noch nie einen gerechten Krieg gesehen. Es ging immer nur um Geld, um Macht und um Besitz. Gernot hatte ihm einreden wollen, dass die Kämpfe der Kreuzzüge, die bereits seit fast 200 Jahre andauerten, gerecht wären. „Deus lo vult“, Gott würde es angeblich wollen. Aber Heinrich hatte immer abgeblockt. Er hatte genug Männer kennengelernt, die im Heiligen Land gekämpft hatten. Was die erzählten, ließ sogar erfahrenen Kriegern das Blut in den Adern erfrieren. Die sogenannten Christen hatten übel gewütet im Heiligen Land. Sie hatten gemordet, geschändet und sollen sogar Heidenkinder am Spieß gebraten und gegessen haben.
Heinrich war nie ein hochgläubiger Mann gewesen, aber sogar ihm war klar, dass solche Grausamkeiten nicht von Gott gewollt sein konnten. Der Papst hatte Ablässe gewährt, damit die Leute ins Heilige Land zum Kämpfen gingen, aber Heinrich hatte sich nicht einfangen lassen. Den Erzählungen nach war das Heilige Land furchtbar weit weg, man war Jahre unterwegs und musste schlimme Entbehrungen hinnehmen, um dann dort blindwütig Leute abzuschlachten.
Man hatte ihm erzählt, dass es sogar mal einen Kreuzzug gegen andere Christen in Frankreich gegeben hatte. Einen Kreuzzug gegen die Heiden im Heiligen Land konnte man vielleicht sogar noch hinnehmen. Aber einen Kreuzzug gegen Christen in seinem geliebten Frankreich, das ging für Heinrich gar nicht. Die meisten Kämpfer hatten sich wohl keine Gedanken gemacht und hatten geglaubt, was der Papst ihnen gesagt hatte, aber Heinrich hatte sich immer seiner Zweifel bewahrt. Seine Mutter hatte ihm vor vielen Jahren die 10 Gebote beigebracht, und das 5. Gebot war: „Du sollst nicht töten.“ Und trotzdem taten es alle. Es wurde getötet in Kriegen, in Streitereien, in der Gerichtsbarkeit.
Heinrich kam einfach zu keinem Ergebnis. Niemand, auch er nicht, nahm die Gebote ernst. Aber er wollte doch ein besserer Mensch werden? Und er wollte so gerne in den Himmel kommen, was sollte er nur tun? Heinrich fühlte sich so unglaublich einsam und verloren. Mit wem sollte er über diese Dinge sprechen? Er selbst hatte getötet, und zwar nicht nur einmal. Er hatte gelogen, gestohlen und etliche Male auch gegen das 9. Gebot verstoßen und das Weib seines Nächsten begehrt und einfach genommen (auch wenn das Weib gar nicht wollte). Wenn Heinrich drüber nachdachte, so hatte er eigentlich gegen fast alle Gebote verstoßen. Gerade mal zwei Gebote, die er eingehalten hatte, fielen ihm ein, das erste und das vierte. Er hatte keine anderen Götter neben Gott, und er hatte Vater und Mutter geehrt. Bis vor Kurzem.
Er vergrub das Gesicht in den Händen. Den Vater konnte er nun auch nicht mehr ehren. Was blieb noch übrig? Heinrich seufzte. Er hatte einfach zu viel Zeit zum Denken. Er musste unbedingt aus diesem Bett herauskommen. Wieder Reiten gehen, tätig werden, Besuche machen und sich endlich um sein Gut kümmern.
Mühsam schob er sich hoch und angelte nach seinem Stock. Der Stock fiel um und Heinrich kam nicht dran. Er war so frustriert. Nichts ging so, wie er das wollte.
Hilflos blieb er im Bett liegen, er musste wohl warten, bis die Magd kam und ihm den Stock aufhob. Nachdenklich sah Heinrich sein Mittagessen an. Es gab Pasteten, die mit Pilzen und Kalbfleisch gefüllt waren. Er seufzte. Sicherlich aß sein Gesinde das nicht, für die Leute gab es wohl Suppe.
Heinrich nahm eine der Pasteten und biss hinein. Er spürte seinen Hunger im Bauch, aber der Appetit wollte trotzdem nicht kommen. Was er da gestern erfahren hatte, verschloss ihm den Magen. Aber der Verwalter hatte Recht. Es würde niemandem nutzen, wenn er sich kasteite.