Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff
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Der Arzt aus dem Kloster kam und verabreichte Heinrich viele Tränke, von denen er nicht genau wusste, was drin war. Anscheinend jedoch enthielten sie viel Alkohol und vielleicht noch irgendwelche Kräuter, die müde machten. Auf jeden Fall sorgten die Tränke dafür, dass Heinrich viel schlief, trotz der verstopften Nase und der Schmerzen.
Seine Freunde kamen jeden Tag an sein Bett, gingen aber immer recht schnell wieder. Mit Heinrich war gerade nichts anzufangen. Entweder schlief er, oder er schlief eben nicht und hatte dann furchtbare Laune. Heinrich fühlte sich wie ein Rennpferd, dass eingesperrt war, und er fuhr aggressiv jeden an, der ihm in irgendeiner Form auf die Nerven ging, auch den Arzt, Bruder Humbert. Seine Freunde machten das eine Zeitlang mit, aber irgendwann reichte es ihnen auch. Nur gut, dass das Weihnachtsfest kam und sie einen guten Grund hatten, um Rabenegg zu verlassen. Nach und nach kamen sie, um sich zu verabschieden. Sie würden zum Weihnachtsfest zu ihren Familien nach Hause reisen und dann wiederkommen, so versprachen sie es zu mindestens.
Heinrich verbrachte die Feiertage im Bett. Wo hätte er auch sonst hingehen können? Normalerweise verteilte er zu Weihnachten kleine Geldgeschenke, Lebkuchen und wollene Socken an seine Dienstboten und hielt ein Festmahl mit ihnen, aber das übernahm dieses Jahr der Verwalter. Danach kam er und aß mit Heinrich, trotzdem war es unsäglich langweilig.
Heinrich hatte die Erkältung überstanden und war wieder gesund, aber das Bein würde noch länger brauchen. Die Fleischwunde war gerade dabei, zu verheilen. Nachdem es ein großer Riss gewesen war, würde es wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen, aber die Wunde heilte ohne große Schwierigkeiten.
Kapitel 2: Die Wahrheit
Der Arzt war während der Erkältung 10 Tage dageblieben, jetzt kam er nur noch alle paar Tage, um nach seinem Patienten zu sehen. Heinrich war nun viel alleine und hatte Zeit, nachzudenken. Am Anfang hatte sein Zorn über seine momentanen Einschränkungen und über die Langeweile überwogen und er hatte diesen Zorn an allen ausgelassen, die in seine Kammer gekommen waren.
Er hatte nun sehr viel Zeit, um über sich und sein Leben nachzudenken. Zuviel Zeit. Es war keine gute Bilanz, die Heinrich ziehen konnte. Immer wieder musste er an den Moment im eiskalten Bach denken, in dem er erkannt hatte, dass er sterben würde. Er war sich plötzlich so sicher gewesen, dass er in die Hölle kommen würde. Heinrich wollte nicht in die Hölle, aber das bedeutet, dass er Dinge anders tun musste.
Das war das Schwierigste an der ganzen Sache. Natürlich konnte er beichten, beten und sich vornehmen, ein besserer Mensch zu sein. Doch es dämmerte ihm langsam, dass es damit nicht genug sein würde. Er musste Dinge auch anders tun. Aber wie?
Heinrich wusste, dass er nicht viel Geduld hatte, und er verstand auch nichts vom Gutsbetrieb. Sollte er sich wirklich damit beschäftigen? Sollte er freundlicher zu seinen Untergebenen sein? Aber dann würden sie ihm auf der Nase rumtanzen. Sein Vater, der lange sein großes Vorbild gewesen war, hatte ihn immer davor gewarnt. Jeder wusste, dass es nicht gut war, zu freundlich zum Gesinde und den leibeigenen Bauern zu sein, denn die würden das sofort ausnutzen. Heinrichs Gedanken drehten sich im Kreis. Er wollte Dinge besser machen, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte.
Was sein Vater wohl getan hätte? Er wusste es nicht.
Vielleicht konnte er einfach ein klein wenig freundlicher sein, ein klein wenig gnädiger?
Eines Tages hatte Heinrich eine großartige Idee und wunderte sich, dass er nicht früher draufgekommen war. Er würde Geld und Wachs für Kerzen an die Kirche stiften. Es gab ja ein Kloster nicht weit weg, es war vor vielen Jahren von einem von Heinrichs Vorfahren gegründet worden. Er würde also diesem Kloster Wachs und Geld stiften und vielleicht noch Grundstücke. Dafür würden die Mönche für ihn beten und er wäre fein raus. Heinrichs Herz wurde etwas leichter. Das war doch schon mal ein Anfang. Der heilkundige Mönch kam ja nach wie vor regelmäßig, da konnte er ihm das gleich sagen, damit die Mönche umgehend mit den Gebeten anfangen konnten.
Als Bruder Humbert das nächste Mal kam, erzählte Heinrich ihm von den zu erwartenden Spenden. Humbert nahm die gute Nachricht wohlwollend zur Kenntnis und versprach, mit den Brüdern für ihn und sein Seelenheil zu beten. Dann untersuchte er Heinrichs Bein.
Zum ersten Mal seit Heinrichs Bettlägerigkeit schien der einigermaßen gut gelaunt und gesprächsbereit zu sein, also nutzte Humbert die Gunst der Stunde und unterhielt sich mit seinem Patienten über die Verletzung. Er wusste zwar in groben Zügen, was passiert war, aber er ließ es sich von Heinrich noch einmal erzählen. Heinrich war froh, dass er etwas Abwechslung hatte und berichtete so gut es ging. Humbert war erstaunt: „Der Knecht hat Euere Knochen wieder eingerenkt?“
„Ja. Er hat gesagt, es würde später noch schmerzhafter werden, wenn alles geschwollen ist.“
„Da hat er Recht, aber woher kann er das? Ist er ein Bader?“
Heinrich hatte keine Ahnung, ob Martin ein Bader war. Aber wohl eher nicht, er war ja schon als Kind nach Rabenegg gekommen. Also schüttelte er den Kopf. Humbert fuhr fort. „Er hat seine Sache gut gemacht. Wenn Knochen verschoben sind, dann wachsen sie oft schief wieder zusammen. Ihr habt viel Glück gehabt, dass er dagewesen ist. Er hat Euch aus dem Wasser gezogen, Euch vor dem Verbluten gerettet und das Bein wieder eingerenkt. Es ist gut, wenn man so jemanden im Hause hat.“
Heinrich wurde ganz still. Er war so mit seiner Erkältung und dann dem Selbstmitleid beschäftigt gewesen, dass er Martin darüber vergessen hatte. Er erinnerte sich, dass er sich vorgenommen hatte, ihm das Hungern am Sonntag erlassen. Das war nun auch schon wieder vier Wochen her. Vier Sonntage ohne etwas zu Essen und mit viel Arbeit. Das musste sich ändern.
Bruder Humbert meinte weiter, dass Heinrich wieder anfangen müsste, seine Beine zu bewegen und auch das gebrochene Bein zu belasten. Er zeigte ihm Übungen, wie er im Bett die Beine bewegen sollte und erklärte ihm auch, wie er mit Hilfe eines um den Knöchel gebundenen Strickes im Bett das verletzte Bein jeden Tag belasten sollte. Er versprach, dass Heinrich bald aufstehen konnte, wenn er brav seine Übungen machte.
Das war Heinrich nur recht. Im Bett Herumliegen war nicht seine Erfüllung.
Der heilkundige Mönch ging wieder und Heinrich war alleine, wie so oft die letzten Wochen, und dachte nach. Er hatte Martin viel zu verdanken, sein Bein, sogar sein Leben. Was würde so schlimm daran sein, ihn besser zu behandeln? Er war der Sohn des Mannes, der Heinrichs Mutter auf dem Gewissen hatte, aber immerhin hatte er Heinrich das Leben gerettet, warum auch immer. Vielleicht war es an der Zeit, den quälenden Hass zu begraben. Vielleicht war es an der Zeit, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen. Heinrich hätte so gerne abgeschlossen, doch da war immer noch die Wut, immer noch die Enttäuschung über sein verlorenes Glück. Würde er seine Mutter verraten, wenn er freundlicher zu Martin war, zum Sohn ihres Vergewaltigers und letztendlich Mörders?
Als der Verwalter zu seinem täglichen Besuch kam, trug er ihm auf, Martin das Hungern und die Arbeit am Sonntag zu erlassen. Ulrich war sichtlich froh, er meinte: „Gut, ich werde es ihm sagen. Vielen Dank, Heinrich. Er braucht dringend mehr zu Essen und noch dringender Ruhepausen. Es wundert mich eh, dass er solange durchgehalten hat.“
Heinrich hörte die leise, feine Kritik heraus. Anscheinend verstand Ulrich nicht, warum er das alles getan hatte. Er fragte: „Kann es sein, dass Ihr Mitgefühl mit ihm habt? Wisst Ihr denn