Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff

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Der Seele tiefer Grund - Beate Berghoff

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und mit der Wärme kam die Zirkulation zurück und damit auch die Blutung. Das Bein tat verdammt weh und die Hoffnung, die Heinrich gerade noch gespürt hatte, bekam einen merklichen Dämpfer. Heinrich fror, er war verletzt und weit weg von Zuhause, allein mit einem Mann, der für ihn nichts als Hass übrighaben konnte.

      Heinrich erinnerte sich. Seine Mutter war aus Frankreich gewesen, sein Vater hatte sie aus Liebe geheiratet, was sehr selten war. Sein Vater, Karl, hatte sie verehrt und auf Händen getragen. Sie mussten wohl sehr glücklich gewesen sein. Jeden zweiten Sommer reisten sie für ein paar Wochen nach Frankreich, um ihre Familie zu besuchen. Heinrich konnte sich nur sehr dunkel daran erinnern, er war noch klein gewesen. Eines Tages, Heinrich war 5 Jahre alt, waren sie wieder unterwegs von Frankreich nach Hause gewesen. Der Vater war schon vorgeritten, um nach dem Rechten zu sehen und alles für ihre Ankunft vorzubereiten. Die Zeit in Frankreich war wunderschön gewesen, am meisten hatte Heinrich das Meer geliebt, er liebte es noch heute. Er war ab und zu in Frankreich gewesen seither, und sein Hauptziel war immer das Meer. Er konnte dort stundenlang sitzen und den Wellen zusehen und zuhören. Das Meer war beruhigend und verbunden mit wunderbaren Erinnerungen an seine Mutter.

      Doch damals, auf dem Heimweg als er fünf Jahre alt war, wurde die Reisegruppe von Wegelagerern überfallen und verschleppt. Sie waren wohl Bauern, die durch einen Brand ihr Dorf und all ihr Hab und Gut verloren hatten, so war es Heinrich erzählt worden. Er und seine Familie hatten ein paar Wochen als Gefangene in irgendwelchen Hütten im Wald gehaust, die Räuber hatten von dem erbeuteten Geld und Schmuck gut gegessen und sich gekleidet. Es wäre nichts weiter passiert, wenn sie die Gefangenen einfach hätten gehen lassen, aber das taten sie nicht. Sie töteten die Begleitsoldaten und vergingen sich an den Frauen, auch an Heinrichs Mutter Melisende und ihrer Schwester Marie. Karl begab sich rasend vor Wut auf die Suche und stöberte die Leute auf. Es musste ein ziemliches Gemetzel gewesen sein, denn es blieb niemand übrig, den Karl der Gerichtsbarkeit hätte übergeben können.

      Heinrich und seine Familie kamen wieder Zuhause an, aber dort ging das Leid erst richtig weiter, denn seine Mutter war von den Vergewaltigungen schwanger geworden. Sein Vater hatte Heinrich erzählt, dass sie durch die Schande schwermütig geworden war und sich hochschwanger aus einem der Wachtürme gestürzt hatte. Heinrich war sechs Jahre alt gewesen, als seine Mutter starb, und die Veränderungen, die folgten, waren gravierend gewesen. Seine ältere Schwester kam in ein Kloster zur Erziehung. Sein Bruder Karl war gar nicht da, der war bereits Page und wurde in einer anderen Burg zum Ritter ausgebildet. Plötzlich war Heinrich alleine gewesen, ohne Mutter und Schwester. An viel konnte er sich nicht mehr erinnern, nur dass es eine einsame und traurige Zeit gewesen war. Sein Vater war schier wahnsinnig vor Kummer geworden und hatte sich in die Arbeit mit den Pferden geflüchtet.

      Heinrich hatte sich damals an Veit, den Sohn des Stallmeisters gehängt. Er war zwei Jahre älter und konnte unglaublich gut reiten. Damals scherzten die Leute, dass er reiten konnte, bevor er mit dem Laufen anfing. Veit hatte ihn damals aus der Einsamkeit gerettet und ihm das Reiten beigebracht.

      Heinrich hing seinen Gedanken nach und überlegte, was wohl mit Veit passiert war? Er hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Vielleicht hatte er sich freigekauft und war weggegangen, oder er war tot. Viele Leute starben jung, es wäre nichts Ungewöhnliches gewesen.

      Heinrich war recht lange Zuhause geblieben, eigentlich hätte er gar nicht weggehen sollen. Er war geplant, dass er Zuhause blieb, dort lernte und später die Pferdezucht übernehmen würde. Doch sein Bruder starb, als Heinrich neun Jahre alt war, und er musste doch noch an einen anderen Hof gehen, um als Ritter ausgebildet zu werden. Sein Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, dass einer seiner Söhne Ritter sein musste, und so geschah es auch. Heinrich war also deutlich länger Zuhause geblieben als die anderen Pagen, und Veit hatte die ganze Zeit mit ihm das Reiten und das Anreiten geübt. Heinrich hatte damals sogar ein Pony bekommen, das er selbst zureiten und trainieren durfte, was ihm mit Veits Hilfe auch gelungen war.

      Dann war der Ernst des Lebens losgegangen, und Heinrich hatte, wie so viele andere Jungs auch, die Ausbildung zum Ritter durchlaufen; erst als Page und dann als Knappe. Normalerweise wurde man mit 21 zum Ritter geschlagen, aber Heinrich hatte den Ritterschlag schon mit 20 empfangen, weil mal wieder Krieg war und der Herzog Leute zum Kämpfen gebraucht hatte. Albrecht, Leonhard und Gottfried waren mit ihm zusammen Ritter geworden, sie hatten zusammen gekämpft und waren beste Freunde seitdem. Es waren noch zwei Freund mehr gewesen, doch die waren im Krieg geblieben. Während der Ausbildung war Heinrich nur immer mal wieder ein paar Wochen im Sommer und zu Weihnachten heimgekommen.

      Eines Tages, Heinrich war 16 und über den Sommer ein paar Wochen Zuhause, hatte sein Vater ihm stolz einen verschüchterten, mageren Jungen von ungefähr 10 Jahren vor die Füße geworfen. Es war der Sohn des Mannes, der seine Mutter vergewaltigt hatte, so wurde ihm gesagt. Heinrich hatte zwar nicht ganz verstanden, wie sein Vater an dieses Kind gekommen war, aber letztendlich war es ihm auch egal gewesen. Sein Vater hatte endlich jemanden gefunden, an dem er sich für den Verlust seiner Ehefrau und seines Glücks rächen konnte, und das tat er auch ausgiebig.

      Der Junge, Martin, musste als Stallknecht am Gut arbeiten und hatte nichts zu lachen. Heinrich, der seine Mutter immer tief vermisst und betrauert hatte, war auch froh gewesen, endlich ein Ventil für seine Wut und Trauer gefunden zu haben, und auch er hatte dem Jungen das Leben zur Hölle gemacht.

      Seit zwei Jahren war er nun der Herr auf diesem Gut, und Martins Leben war anders geworden, aber nicht unbedingt besser. Meistens ließ Heinrich Martin in Ruhe, nur zweimal im Jahr, zum Geburtstag und Todestag seiner Mutter, gönnte er sich seine Rache und peitschte Martin vor allen Leuten des Gutes ausgiebig aus. Eigentlich war es ein Wunder, dass er noch lebte, denn Heinrich hatte sich noch eine andere, eine subtilere Rache überlegt: Martin bekam keine Erholung. Am Sonntag, wenn das andere Gesinde nur die notwendige Stallarbeit zu tun und dann frei hatte, musste Martin arbeiten. Weiterhin bekam er den ganzen Sonntag über nichts zu essen, er musste fasten als Buße. So sorgte Heinrich dafür, dass der Sohn des Dreckskerls, der seine Mutter vergewaltigt hatte, ganz langsam und elend zugrunde ging. Es war seine Rache, und er hatte sie nie in Frage gestellt, schließlich stand es ihm zu, sich für den Tod seiner Mutter zu rächen.

      Aber genau dieser Martin hatte ihn jetzt aus dem Bach gezogen und ihn versorgt. Heinrich verstand nicht, warum er das getan hatte. An seiner Stelle hätte er wahrscheinlich den Herrn erfrieren lassen und wäre gerannt, so schnell ihn seine Beine trugen. Martin hatte seit Jahren einen dicken Ring aus Eisen um den Hals, überall hätte man gesehen, dass er weggelaufen war. Er wäre vermutlich nicht weit gekommen, wahrscheinlich was das der Grund für sein ungewöhnliches Verhalten.

      Martin untersuchte gerade mit sorgenvollem Gesicht die Beinwunde. Dann sah er Heinrich ins Gesicht, zum allerersten Mal überhaupt. Heinrich sah, dass er blaue Augen hatte, die Augen faszinierten ihn, irgendwo hatte er diese Augen schon mal gesehen, aber er kam nicht drauf. Vermutlich erinnerte er sich an die Augen des Mannes, Martins Vater, der seine Mutter vergewaltigt hatte. Martin begann zu sprechen, auch das erste Mal heute und vielleicht überhaupt.

      Er meinte: „Das Bein ist gebrochen, Herr, und die Knochen sind verschoben. Ich werde sie wieder einrenken. Wenn es später getan wird, ist alles angeschwollen und es tut doppelt so weh.“ Heinrichs Herz schlug schneller. Als Kind hatte er sich mal einen Arm gebrochen, und das Einrenken der Knochen war furchtbar schmerzhaft gewesen. Aber er nickte nur. Was nutzte ihm ein schiefes Bein?

      Martin nahm Heinrichs langen Schal vom Gestell am Feuer und kniete sich neben das verletzte Bein. Wortlos schob er Heinrich ein Stück Holz in den Mund zum Draufbeißen und legte vorsichtig seine Hände auf das Bein. Er tastete herum und erfühlte mit den Händen die Bruchstellen. Es tat bereits jetzt schon so weh, dass Heinrich verzweifelt auf dem Holzstück herumbiss und keuchend atmete. Martin packte fester zu und tat einen Ruck.

      Heinrich schrie und wartete auf die gnädige Ohnmacht, doch die kam nicht. Sein Schreien ging in ein resigniertes Stöhnen über, dann biss er wieder auf das Holz, denn

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