Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark
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Der Direktor lächelte gelassen. »Ich werde Otto Dix nicht zensieren, Herr Köhler-Schultz, so wenig, wie ich Sie zensieren möchte. Ihre Kolumne werde ich mit Interesse lesen.«
Die ersten Besucher strömten herein, Julius hörte das anschwellende Stimmengewirr der Gäste, die sich durch den ersten Saal bewegten. Wortlos drehte er sich um und ging davon. Er hatte keine Lust auf diesen widerwärtigen Zirkus. Im gedrängt vollen Foyer wartete er ungeduldig auf seinen Mantel. Er wollte allein sein, sich der reinigenden Wirkung der frostigen Kölner Nachtluft aussetzen. Als die Garderobenfrau ihm in den Mantel helfen wollte, griff er ihn sich einfach, legte ihn über seinen Arm und kämpfte sich Richtung Ausgang. Es war purer Zufall, dass ihm zwei Männer in den Blick gerieten, die unweit der Treppe standen. Der eine trug einen dunklen Bart und einen ausgefransten Abendmantel aus pflaumenblauem Samt. Der andere war Matthias.
Julius verschlug es fast den Atem vor Freude. Er rief Matthias’ Namen, aber im Foyer herrschte solcher Lärm, dass man ihn nicht hörte. Während er sich einen Weg durch die Menge Richtung Matthias bahnte, beugte sich dieser zu seinem Begleiter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Matthias!«, rief Julius erneut, und dieses Mal merkte Matthias auf. Julius lächelte herzlich, aber Matthias sah ihn mit gerunzelter Stirn ärgerlich an und schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht«, sagte er, oder zumindest glaubte Julius das verstanden zu haben, denn bevor Julius sich vergewissern konnte, war Matthias verschwunden, verschluckt von der Menge.
Julius fuhr mit dem Nachtzug nach Berlin zurück. Noch vom Bahnhof aus telegraphierte er an Geisheim: KEINE SONNENBLUMEN. Als er wieder zu Hause war, trug er Fräulein Grüber auf, den Redaktionsassistenten anzurufen. Sein Artikel sei um vier Uhr zur Abholung bereit. Bis dahin wollte er nicht gestört werden. Eine Stunde später klopfte die Stenotypistin leise an seine Tür.
»Was ist?«, rief er wütend.
»Entschuldigen Sie, aber Herr Rachmann ist am Telefon. Ich habe ihm gesagt, dass Sie beschäftigt sind, aber er hat sich nicht abwimmeln lassen. Angeblich ist es dringend.«
Julius blickte auf das Blatt Papier vor ihm. WAS IST SCHLECHTE KUNST?, lautete die Überschrift in Großbuchstaben. Alles andere war durchgestrichen. »Nicht jetzt«, erwiderte er barsch.
Fräulein Grüber schloss die Tür. Julius starrte auf das Blatt, knüllte es zusammen und warf es in den Kamin. Bei seinen Artikeln für die Zeitung hatte er in all den Jahren noch nie eine Schreibblockade erlebt. Stets wusste er, was er sagen wollte und wie er es am besten formulierte, wo die Balance lag zwischen fachlicher Expertise und Leserfreundlichkeit, zwischen oberflächlichem Glanz und tiefer Erkenntnis. Die Sätze flossen ihm aus der Feder wie einer Spinne der Seidenfaden, fast ohne bewusstes Zutun und nach bewährten Mustern. Diesmal aber nicht. Diesmal waren die Worte wie ein wirres Knäuel, das sich in seinem Kopf zusammenballte. Er schloss die Augen, um sie zu fassen zu bekommen, aber alles, was er sah, war Vincent, grünäugig und hager, und – gespiegelt in seinem schonungslos starren Blick – den Leichnam von Dix’ gekreuzigtem Landser.
Den ganzen Nachmittag lang rang Julius um Formulierungen, strich jedoch alles wieder durch. Nachdem er den Boten der Tribüne um vier Uhr mit leeren Händen fortgeschickt hatte, rief Geisheim an. Aber Julius ging nicht an den Apparat. Es wurde dunkel. Fräulein Grüber klopfte vorsichtig an die Tür und fragte, ob er etwas für sie zum Abtippen habe. Er schickte sie nach Hause. Einige Minuten später hörte er, wie sie sich zum Gehen anschickte, das flinke Klackern ihrer Absätze auf dem Parkett, das sonore Zuschnappen der Haustür, als sie sich hinter ihr schloss. Er stand auf und stellte sich vor den Kamin, auf dessen Rost zahllose Papierknäuel lagen. Morgen würde er zu Geisheim gehen und ihm erklären, es sei nicht die Aufgabe deutscher Zeitungen, die imperialistischen Bestrebungen von Deutschlands Feinden zu unterstützen. Er wandte den Kopf, blickte auf den Nagel an der Wand und dessen gespenstischen Schatten darunter. Böhm hatte eine Nachricht hinterlassen, als Julius in Köln war. Es sei ein Ende in Sicht. Das Gericht habe Luisas Anwälten zwei Wochen Zeit für ihre Gegenklage eingeräumt. Falls sie, wie er vermutete, nichts Substanzielles vorzubringen hatten, würde Böhm bei Gericht die Eröffnung der Verhandlung beantragen. Dann würde Julius seine Scheidung bekommen sowie sein Gemälde und seinen Sohn.
Müde rieb sich Julius den Nacken. Er vermutete, Matthias habe angerufen, um sich zu erklären, aber er war sich nicht sicher, ob ihn seine Erklärungen interessierten. Er hatte keine Zeit für derart kindisches Getue, nicht wenn es ihn aufwühlte und von seiner Arbeit ablenkte. Davon hatte er schon mit Luisa genug gehabt. Seufzend berührte er mit einem Finger den leeren Nagel an der Wand. Vincent hatte einmal an Theo geschrieben, die größte Kunst bestehe darin, andere Menschen zu lieben. Das war natürlich Unsinn, zumindest was van Gogh betraf. Sein Werk bezog seine Kraft aus der Einsamkeit. Sein Genie lag in seiner Sehnsucht, in seiner schrecklich unerschütterlichen Hoffnung. Er malte Bilder, weil sie der beste Ersatz für menschliche Wesen waren, den er finden konnte.
Plötzlich hatte Julius das Gefühl, es zu Hause nicht mehr auszuhalten. Er riss die Tür des Arbeitszimmers auf, um nach Frau Lang zu rufen, sie solle ihm den Mantel bringen. Doch er hielt abrupt inne, denn Fräulein Grüber stand, ihre Handtasche umklammernd, in der Eingangshalle. Und neben ihr, vor Kälte fröstelnd und ohne Mantel, Matthias. »Es ist nicht Fräulein Grübers Schuld«, sagte er. »Sie ist gerade aus dem Haus gekommen.«
Julius schüttelte den Kopf. Er fühlte sich plötzlich alt und sehr müde. »Ich bin im Begriff auszugehen.«
»Natürlich, ich verstehe, es tut mir leid, ich wäre nicht gekommen, wenn ich nicht … ich wollte nur fragen, ob ich meinen Mantel wiederhaben kann. Es ist mein einziger.«
Seinen Mantel. Sonst nichts. Er klang noch müder als Julius. Julius nickte verständnisvoll. »Frau Lang wird ihn dir bringen.«
»Oder soll ich ihn holen?«, bot Fräulein Grüber an. »Dauert keine Minute.«
»Das wäre nett. Danke.«
Nachdem sie davongeeilt und die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, herrschte betretenes Schweigen. Matthias seufzte. »Verzeih mir«, sagte er.
»Ich bin sicher, Fräulein Grüber macht das gern.«
»Nicht wegen des Mantels. Neulich Abend, als ich einfach so davongelaufen bin …«
»Ist schon vergessen.«
»Für mich nicht.«
»Schau, es war mein Fehler, es gehörte sich nicht.«
»Nein, du warst aufrichtig«, erwiderte Matthias leise. »Ich aber nicht. Ich wollte es dir sagen, ich habe es versucht, konnte es aber nicht. Ich habe befürchtet, wenn du wüsstest …«
»Wenn ich was wüsste?«
Die Tür zum Dienstbotentrakt öffnete sich, und Frau Lang hastete in die Eingangshalle, Fräulein Grüber im Schlepptau. Sie funkelte Matthias misstrauisch an. »Haben Sie nach mir gerufen?«, fragte sie Julius. »Fräulein Grüber scheint zu denken, dass Sie ausgehen wollen.«
»Ich bin mir noch nicht sicher«, erwiderte Julius, »vielleicht später.« Aber Matthias schüttelte den Kopf. Er ließ sich von Fräulein Grüber den Mantel reichen und schlüpfte hinein.
»Ist gut«, meinte er. »Ich gehe.«
»Dann brauche ich meinen Mantel auch«, sagte Julius zu Frau Lang.
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