Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

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Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange

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Die Ruhe, mit der er sprach, fühlte sich an wie eine Nadelspitze, die an Christophers Nerven entlangfuhr. Er selbst hatte ständig das Gefühl, schreien zu müssen.

      Er wandte den Kopf und warf seinem Bruder einen Blick zu. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

      »Ich rede von deiner Spottlust, Christopher.«

      »Das ist keine Spottlust. Es ist reiner, wohltuender Zynismus.«

      »Du fühlst dich wirklich besser, wenn du spottest, oder?«

      Nein!, dachte Christopher automatisch. Doch laut sagte er: »Zynismus bedeutet, die Dinge so zu betrachten, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten.«

      »Oscar Wilde zu zitieren, macht es nicht besser!«, rügte Adrian.

      »Stimmt, aber immerhin lässt es einen tragisch wirken.« Jetzt drehte Christopher sich um. Der Regen hatte auch Adrian durchnässt. Wie Christopher vermutet hatte, war das Gesicht seines Bruders unter der Kapuze verborgen. Adrian vermied es so gut es ging, ihm seinen Anblick zuzumuten. Christopher wusste, dass er ihn damit schützen wollte, und manchmal rührte ihn die Sinnlosigkeit dieser kleinen Geste. Du musst das nicht tun, wollte er sagen. Aber Adrian wusste, dass er das dachte. Es war nicht nötig, es auszusprechen.

      »Du siehst erschöpft aus«, sagte Adrian.

      »Ich sehe erschöpft aus?« Christopher stieß ein trockenes Lachen aus. Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen! Auch das sprach er nicht aus. Stattdessen meinte er: »Aus deinem Mund klingt das wie ein schlechter Witz.«

      »Ich dachte mir, ich übernehme zur Abwechslung mal deine Rolle.«

      Es steckte so vieles in diesem einen Satz, dass Christopher die Zähne zusammenbeißen musste, um all die Emotionen – den Schmerz, die Schuldgefühle, den Selbsthass – auszuhalten.

      »Tut mir leid«, murmelte Adrian. »Du weißt, wie ich das gemeint habe. Aber ich durchschaue dich, Bruderherz. Das vergisst du immer wieder. Ich weiß, dass kein Spott und keine noch so geistreiche Bemerkung von dir diesen Schmerz in dir lindern können.«

      »Du unterschätzt meine Kreativität.«

      Diesmal schnaubte Adrian nur.

      Minutenlang schwiegen sie, starrten gemeinsam auf den Grabstein.

      »Fünf Jahre ist es jetzt her, dass Alice …« In Adrians Stimme krächzte das lange Schweigen. »In letzter Zeit frage ich mich immer häufiger, was passiert, wenn wieder ein Mädchen hier auftaucht.« Er räusperte sich, rieb seine Stirn.

      Christopher lauschte seinem Herzen, jeder einzelne Schlag war ein trotziger Kampf gegen die Verzweiflung und am liebsten hätte er irgendwas getan, damit es endlich aufhörte.

      »Ich habe Angst«, flüsterte Adrian. »Angst, dass ich es nicht mehr ertragen kann, wenn es noch mal passiert.«

      Es.

      Das winzige Wort ließ Erinnerungen in Christopher aufflackern. Erinnerungen an sein Blut an Adrians Händen. An Zorn. Und Schmerz. Aber auch an tiefe Reue und unendliche Verzweiflung.

      Er rang sie nieder.

      Adrian hob den Blick in sein Gesicht.

      Christopher hielt ihm stand, auch wenn das Grauen in den Augen seines Bruders ihm das Herz gefrieren ließ. Langsam streckte er die Hand aus. »Gib sie mir!«

      Adrian reagierte nicht.

      »Gib sie mir!«, verlangte Christopher erneut, eindringlicher diesmal. Und nachdem die halbe Ewigkeit in atemlosem Ringen verstrichen war, griff Adrian hinten an seinen Gürtel. Als er die Hand ausstreckte, lag ein altmodischer Revolver darin, der sich seit über hundert Jahren im Familienbesitz befand.

      Christopher schluckte hart. Er wartete, dass Adrian ihm die Waffe gab. Das tat sein Bruder auch, doch er ließ sie nicht los, sondern drehte Christophers Hand so, dass der Lauf genau auf seine eigene Brust zeigte.

      Christophers Herz hörte auf zu schlagen. »Ist die geladen?«, flüsterte er.

      »Finde es raus.«

      Eine Sekunde verstrich. Eine weitere.

      »Je länger ich darüber nachdenke«, flüsterte Adrian, »umso klüger kommt es mir vor, dass du mir damals diesen Schwur abgerungen hast.«

      Die Welt ringsherum wurde fahl. Christopher zwang sich, nicht zu blinzeln. Wenn er jetzt nicht stark war für Adrian, das spürte er deutlich, würde sein Bruder den Schritt in den Abgrund machen und ihn mitreißen. Und was noch viel schlimmer war: Er würde ihm mit Freuden folgen.

      »Dieser Schwur war eine idiotische Idee«, sagte er mit einer Stimme, die aus einem Grab zu kommen schien. »Und das habe ich dir seitdem auch schon hundertmal gesagt.«

      »War es nicht.« Sanft schüttelte Adrian den Kopf. »Lass es uns tun, Christopher! Lass es uns beenden, bevor wir einem weiteren Mädchen das antun, was wir Alice angetan haben.«

      »Nein!« Die Waffe war eiskalt in Christophers Hand. »Lass den Revolver los!«, befahl er.

      Der Rest der Ewigkeit verging, bevor Adrian endlich gehorchte. Erleichtert kontrollierte Christopher, ob die Waffe gesichert war. Sie war es. Nachzusehen, ob sie auch geladen war, dazu fehlte ihm die Kraft. Er steckte den Revolver hinten in seinen Hosenbund. »Darum rette ich mich in Humor, Adrian«, krächzte er. »Weil einer von uns beiden den Kopf über Wasser halten muss.«

      Adrian senkte den Kopf, aber ohne dabei den Blick von Christopher zu nehmen. Sein Anblick bekam etwas Reuevolles dadurch. Er wusste, wie sehr er Christopher mit seinem Verhalten schockiert hatte, und es beschämte ihn.

      Christopher spürte das Gewicht der Waffe an seinem Rücken. Ihm war schlecht.

      »Weißt du, wovor ich noch mehr Angst habe?«, fragte Adrian. »Davor, dass du es irgendwann nicht mehr erträgst, Christopher!«

      »Dazu gibt es keinen Grund. Du weißt schließlich, wie tough ich bin.«

      Mit einem Ruck wandte Adrian sich ab und starrte auf das Moor hinaus. »Komm wieder rein!«, meinte er irgendwann. »Ruh dich aus. Du siehst wirklich erschöpft aus.«

      Dann ging er.

      Mit brennenden Augen starrte Christopher ihm nach.

      »Verdammt, Adrian!«, schrie er.

      Als Jessa die Hand nach dem Umschlag ausstreckte, taumelte eine Erinnerung durch ihren Kopf. Sie sah sich auf dem Bahnsteig von King’s Cross stehen, über sich das geschwungene Glasdach, auf das feiner Londoner Regen niederfiel …

      Der Zug, mit dem Alice aus Yorkshire hätte zurückkehren sollen, kam an. Menschen stiegen aus.

      Aber keine Alice.

       Jessa nahm das Handy heraus. Tippte:

      Wo bist du???

      Das kleine Häkchen neben der Nachricht blieb beharrlich grau und zeigte an, dass die Nachricht Alice nicht erreicht hatte. Genau

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