Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

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Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange

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in einem der typischen Yorkshire-Häuser und Jessa konnte sich gut vorstellen, wie es darin aussah: enge Gänge und kleine Zimmer, allesamt vollgestellt mit Metallregalen, in denen alte und völlig zerlesene Bücher standen. Fast glaubte sie auch, den Bibliotheksgeruch riechen zu können, den sie so liebte. Die Website selbst war nicht besonders aussagekräftig, aber immerhin gab es eine Telefonnummer. Weil sie darunter um diese nachtschlafende Zeit natürlich niemanden erreicht hätte, speicherte Jessa die Nummer in ihrem Handy ab. Dann gab sie Haworth und Yorkshire in die Suchmaschine ein.

      Nur oberflächlich überflog sie den Wikipedia-Eintrag über die kleine Stadt und konzentrierte sich dann lieber auf die offiziellen Websites. Die Schwestern Brontë – Charlotte, Emily und Anne –, die im 19. Jahrhundert gelebt und Romane und Gedichte geschrieben hatten, waren offenbar die berühmtesten Einwohnerinnen der Stadt gewesen. Jessa stieß nahezu überall auf sie: Es gab eine Brontë-Society, die ein Brontë-Museum unterhielt, ein Brontë-Hotel, Läden, die Charlotte’s hießen oder Emily’s …

      Bei einem Bild blieb Jessa schließlich hängen.

      Es war das, was auch auf dem Cover von Alice’ Buch abgedruckt war. Jessa las den kurzen Text darunter und erfuhr, dass der Bruder der drei Schwestern, ein Mann namens Branwell Brontë, es gemalt hatte. Branwell Brontë. An den Namen erinnerte Jessa sich. Es war der Maler, über den Alice geforscht hatte. Sie betrachtete die Gesichter der Frauen und dann die nebelartig verschwommene Stelle, wo offenbar ursprünglich mal eine vierte Person gewesen war. Laut Wikipedia hatte sich an dieser Stelle Branwell selbst befunden und er hatte sich irgendwann später übermalt, weil er sich nicht gut getroffen gefunden hatte.

      Nachdenklich kaute Jessa auf der Unterlippe herum.

      Was nun? Anders als eben in der Dunkelheit ihres Zimmers kam ihr der Gedanke, dass Alice noch irgendwo dort oben in Yorkshire war und sie nach ihr suchen musste, plötzlich albern vor. Die Polizei war sich schließlich sicher, dass Alice tot war. Sie war leichtsinnigerweise bei Nebel ins Moor gegangen und nicht wiedergekommen.

      Trotzdem ging Jessa das Haus aus ihrem Traum nicht aus dem Kopf. Und dieses unbestimmte Gefühl, dass Alice dort auf sie wartete. Mehr oder weniger ziellos klickte sie auf die Bilderanzeige ihrer Suche. Dutzende von Haworth-Fotos erschienen: kleine Gässchen mit Touristenläden, die Krimskrams verkauften, Fotos des Moores im Sommer und im Winter, Fotos eines verfallenen Bauernhauses namens Top Withens …

      Das Foto einer anderen Ruine fiel ihr ins Auge – die Überreste eines Herrenhauses mit zwei Flügeln, deren Dächer eingestürzt und deren Fenster ausnahmslos zerborsten waren. Mit einem Anflug von Spannung klickte Jessa darauf.

      High Moor Grange, so hieß das Herrenhaus. Es gehörte einer uralten Adelsfamilie namens Addingham und war nicht öffentlich zugänglich. Unter dem Foto der Ruine befand sich ein Kupferstich aus dem 19. Jahrhundert, der zeigte, wie das Haus damals ausgesehen hatte.

      Es war alles da: der Turm, die beiden Seitenflügel mit ihren steilen Dächern, auf denen kleine Zinnen wie Zähne am Himmel nagten. Die mannshohen Fenster hatten Sprossen. Die Freitreppe, die zum Haupteingang führte und jetzt verfallen wirkte, war damals kühn geschwungen gewesen.

      Jessa schaute Alice’ Skizze an, aber im fahlen Flackerlicht des alten Monitors konnte sie so gut wie gar nichts erkennen. Darum ging sie das Risiko ein und schaltete die Schreibtischlampe an, um sich das Bild noch einmal genauer ansehen zu können.

      Und da war es.

      Im Schreibtischlampenlicht erkannte Jessa weitere Linien, die sie im funzeligen Schein ihrer Nachttischlampe nicht gesehen hatte. Sie hielt das Buch schräg, sodass sie in einem anderen Winkel auf die Skizze schauen konnte. Alice hatte das Herrenhaus zuerst vollständig gemalt, inklusive Schornsteinen und Zinnen und Turm. Und dann schien sie alles, was heute nicht mehr existierte, wieder ausradiert zu haben. Nur ganz fein konnte Jessa die gelöschten Teile erkennen.

      Nachdenklich zog sie die Lippe zwischen die Zähne.

      Offenbar hatte ihr Unterbewusstsein die fast unsichtbaren Teile der Zeichnung trotzdem wahrgenommen und darum hatte sie dieses Gebäude in seiner ganzen Pracht vorhin in ihrem Traum gesehen. An der ganzen Sache war nicht das Geringste geheimnisvoll oder gab Anlass zur Hoffnung.

      Sie hatte sich was vorgemacht.

      Besser, sie ging wieder schlafen.

      Mit einem altersschwach klingenden Jaulen, das sogar über die Stimme von Billie Eilish in Jessas Kopfhörern zu hören war, quälte sich der Überlandbus die schmale Landstraße entlang. Hinauf ins Moor von Yorkshire, das hinter einer dichten Wand aus grauem Nebel nur zu erahnen war. Ab und an, wenn dieser Nebel sich ein wenig lichtete, schälten sich Umrisse hervor. Eine niedrige Steinmauer. Ein einsames, verfallenes Gebäude. Einzelne Bäume, deren Äste aussahen wie Hände, die nach einem griffen.

      Jessas Blick verfing sich in dem konturlosen Grau. Der Bus nahm eine Kurve. Kurz glitten seine Scheinwerfer über das Hochmoor links von ihnen und die Nebelschwaden wirkten wie Geister, deren Körper vom Wind in Fetzen gerissen worden waren.

      Jessa schauderte.

      Eine Woche war es jetzt her, dass Ms Trenton ihr den Umschlag mit Alice’ Buch gegeben hatte, und Jessa war in dieser Woche immer unruhiger und kribbeliger geworden. Jede Nacht hatte sie von diesem Herrenhaus geträumt und jede Nacht war das Gefühl, dass sie Alice dort suchen musste, stärker geworden. Schließlich hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Sie hatte ihr Sparkonto geplündert und sich eine Zugfahrkarte nach Leeds gekauft, wo sie in den Bus in Richtung Haworth umgestiegen war. Dort angekommen, hatte sie versucht, Clarice Galloway aufzusuchen, aber die Bibliothek, in der die Frau arbeitete, hatte geschlossen. Also hatte Jessa dem Impuls nachgegeben und sich auf den Weg nach High Moor Grange gemacht. Sie war in den Überlandbus von Haworth nach Laneshawbridge gestiegen.

      Und hier war sie nun. Auf dem Weg zu einem verfallenen Kasten mitten im Moor. Allein aufgrund eines zerfledderten, alten Buches in ihrem Rucksack und dem vagen Gefühl aus einem jede Nacht wiederkehrenden Traum. Dumm eigentlich und trotzdem fühlte sie sich gerade ganz ähnlich wie beim Roofing auf einem Hochhaus an der Dachkante: ein bisschen ängstlich, ein bisschen euphorisch. Und fast so, als wäre sie endlich wieder lebendig.

      Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen hörte sie zu, wie Billie Eilish davon sang, dass alle guten Mädchen in die Hölle kamen. Auf der rechten Seite des Busses rückten die Berge näher an die Straße heran und Jessa betrachtete die im Nebel nur undeutlich erkennbaren Hänge.

      Eine Frau auf dem Sitz auf der anderen Seite des Ganges war ebenfalls in Haworth eingestiegen. Sie hatte ihr schon die ganze Fahrt über seltsam neugierige Blicke zugeworfen und als sich jetzt ihre Augen begegneten, sagte sie etwas, das Jessa wegen der Kopfhörer nicht verstehen konnte.

      Die Frau wiederholte ihre Frage und zwang Jessa damit, einen der Stöpsel aus ihren Ohren zu ziehen.

      »Wie bitte?«

      »Das stammt aus Sturmhöhe, oder?«, fragte die Frau ein drittes Mal. Diesmal deutete sie auf das Tattoo an Jessas rechtem Arm, das zur Hälfte sichtbar war, weil sie den Ärmel hochgeschoben hatte.

      Jessa betrachtete die in ihre Haut eintätowierten Worte und nickte.

      »Ein wunderbares Buch«, behauptete die Frau.

      Ja, dachte Jessa. Du siehst genau so aus, als würdest du diesen Schinken mögen. Sie zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln und steckte den Kopfhörer

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