Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange
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Читать онлайн книгу Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange страница 6
Ihr schossen Tränen in die Augen und wütend warf sie das Buch auf die Bettdecke. Alice hatte sie im Stich gelassen. Warum also heulte sie jetzt hier rum, nur weil ihr irgend so eine dumme Bibliothekarin Alice’ Buch geschickt hatte?
Sie hatte gerade das dämliche Geflenne in den Griff bekommen, als die Zimmertür aufflog und Ginny hereinkam.
»Hey! Ich wusste gar nicht, dass du da bist.« Ihre Zimmernachbarin starrte ihr ins Gesicht. »Oh. Wieder mal Weltschmerz?«
Jessa schüttelte den Kopf. »Quatsch!«
»Klar. Ist nur dein übliches Gute-Laune-Gesicht.« Ginny ließ ihren Blick über das Chaos in ihrer Zimmerhälfte schweifen. »Rutsch rüber!«, befahl sie dann und noch während Jessa überlegte, ob sie es tun sollte, quetschte Ginny sich schon neben sie.
»He!«, beschwerte Jessa sich, rückte aber ein Stück zur Seite.
Ginny deutete auf das Buch und den Briefumschlag. »Was ist das?« Bevor Jessa es verhindern konnte, hatte sie das Buch schon an sich gerissen.
»Hast du sie noch alle?«, protestierte Jessa. Sie grapschte nach dem Buch, aber vergeblich.
»Olle Kamellen!«, sagte Ginny. Sie sah so enttäuscht aus, dass es Jessa fast schon wieder ärgerte, und beinahe hätte sie verraten, dass das Buch Alice gehört hatte. Doch dann biss sie sich auf die Zunge. Seit Alice sie im Stich gelassen hatte, fuhr sie am besten damit, die Dinge mit sich allein auszumachen. Sie nahm Ginny das Buch wieder weg. »Hast du nicht irgendwas vor?«, fragte sie nicht gerade subtil.
Ginny lachte nur. »Statt hier mit dir zu hocken und Trübsal zu blasen? Und ob!« Sie sprang wieder auf die Füße und begann, ein paar Sachen zusammenzusuchen. »Ethan, Toby und ich wollen ins Kino und ich bin spät dran.«
Jessa sah zu, wie sie ihre Schreibtischschubladen durchwühlte und dabei leise vor sich hin fluchte. »Die blöden Mistdinger müssen doch hier irgendwo sein …«
»Bett«, sagte Jessa, die wusste, dass Ginny nach ihren In-Ear-Kopfhörern suchte, und die weißen Kabel unter einem ganzen Haufen Klamotten hervorlugen sah. »Südlich von Blümchenkleid und rosa Strickjacke.«
Ginny wandte sich um. »Ah! Danke!« Sie stopfte die Kopfhörer zu den anderen Dingen in ihre Tasche, dann verabschiedete sie sich. An der Tür blieb sie allerdings noch einmal stehen. »Wie hältst du es nur mit mir aus?«, fragte sie mit einem Blick auf ihr Chaos.
Jessa zuckte gleichmütig mit den Schultern.
»Ich meine: Du hast mit keinem hier länger als ein halbes Jahr zusammen in einem Zimmer gewohnt. Wir beide sind jetzt schon wie lange zusammen?«
»Acht Monate«, sagte Jessa. »Und eine Woche.«
Ginny lachte auf. »Die Tage weißt du bestimmt auch noch?«
Vier, dachte Jessa, doch sie schüttelte den Kopf. Ginny mit ihrer fürchterlichen Unordnung, ihrer lockeren Art und ihrer liebenswerten Unbekümmertheit fing an, ihr ans Herz zu wachsen. Das bedeutete, es wurde wirklich bald Zeit, dass sie Ms Trenton bat, ihr eine andere Zimmernachbarin zu geben.
»Na dann, bis später«, meinte Ginny.
Gleich darauf war sie verschwunden. Jessa nahm sich Sturmhöhe erneut vor. Sorgsam blätterte sie es noch einmal von vorn bis hinten durch auf der Suche nach Hinweisen von Alice. Ihre Schwester hatte früher manchmal zwischen den Seiten ihrer Bücher kleine Zettel versteckt. Es war eine Art Spiel zwischen ihnen gewesen. Die Zettel enthielten dann irgendwelche Zitate oder kleine Geschichten, die Jessa zum Schmunzeln brachten. Manchmal hatte Alice auch einfach nur Ich hab dich ganz doll lieb! draufgeschrieben.
Dieses Buch hier enthielt allerdings keine solche Nachricht.
Erfüllt von Enttäuschung verbrachte Jessa den Rest des Tages damit, Sturmhöhe zu lesen, auch wenn sie es unerträglich fand, wie grausam und zerstörerisch die Figuren sich benahmen. Was hatte Alice nur an dieser düsteren Geschichte gefunden? Nach hundert Seiten klappte Jessa das Buch frustriert zu und starrte gedankenverloren gegen die Wand.
Sie lief über moorige Hügel. Sie spürte den Wind auf ihren Wangen und durch ihre viel zu dünne Kleidung. Ein fast voller Mond stand am Himmel, Wolkenfetzen eilten dahin wie Schafe, die von Wölfen gejagt wurden. Bei jedem Hügel, den sie bestieg, hoffte sie, dahinter Alice zu finden. Aber Alice war nicht da. Obwohl Jessa die ganze Zeit das Gefühl hatte, dass sie sich ganz in der Nähe befand.
Sie erklomm einen besonders hohen Hügel und blieb auf dem Gipfel stehen. Ein hochherrschaftliches Haus thronte über dem Moor. Es sah alt aus. Jessa sah bodentiefe Sprossenfenster und eine elegant geschwungene Freitreppe. Zwei mächtige Seitenflügel wurden von einer Menge Schornsteinen und Zinnen gekrönt und ein massiger Turm erhob sich über dem Ganzen wie ein mahnender Zeigefinger. Eine unbestimmte Einsamkeit strömte von dem Anwesen aus. Jessas Herz wurde schwer.
Mit einem Keuchen wachte sie auf.
Ihre Gedanken fühlten sich an wie ängstliche Tiere, die mal hierhin, mal dorthin jagten, sodass sie immer nur kurz einen von ihnen zu fassen bekam. Sie schloss die Augen und versuchte, sich dieses Herrenhaus zurück ins Gedächtnis zu rufen. Es hatte sich irgendwie angefühlt, als würde es tatsächlich existieren. Als würde ihre Schwester sich dort aufhalten und nach ihr rufen.
Sie zog Alice’ Buch unter der Bettdecke hervor. Im Licht einer Straßenlaterne, das als langer, schmaler Streifen ins Zimmer fiel, sah das Cover grau aus. Sie blätterte zur Seite 27, auf der Alice mit schnellen Strichen ein Gebäude skizziert hatte: ein Herrenhaus auf einem Hügel. Ein Haus mit zwei Seitenflügeln, einem Turm und hohen Fenstern. Nur dass das Haus auf Alice’ Skizze im Gegensatz zu dem in Jessas Traum halb verfallen aussah.
Jessa setzte sich aufrecht hin.
Was, wenn dieses Buch ein Zeichen war? Ein Zeichen dafür, dass sie sich selbst aufmachen und nach ihrer Schwester suchen sollte? Dieses Haus, von dem sie geträumt hatte … was, wenn Alice gar nicht tot war? Wenn sie noch lebte und nicht von dort wegkonnte?
Die Wut, die Jessa die letzten Jahre so sorgfältig geschürt hatte, war plötzlich weniger stark, weil da auf einmal noch etwas anderes war.
Hoffnung.
Jessa warf einen Blick auf ihr Handy. Es war erst halb zwei in der Nacht, aber sie würde jetzt auf keinen Fall mehr schlafen können, also schwang sie die Beine aus dem Bett. Leise schlüpfte sie in Jeans und Hoodie und schlich aus dem Zimmer.
Den Zettel an der Tür vom Computerraum, auf den irgendeine Erzieherin Benutzung nach 22 Uhr strengstens verboten! geschrieben hatte, ignorierte sie. Stattdessen atmete sie durch, dann schob sie die Tür einen Spaltbreit auf und schlüpfte in den Raum. Das einzige Fenster ging auf einen Garten hinaus und es gab keine Straßenlaternen, die für ein bisschen Licht sorgten. Da Jessa es nicht wagte, die Deckenbeleuchtung anzuknipsen, musste sie ihre Handylampe benutzen. Deren Schein riss ein paar reichlich altmodische Computer aus der Finsternis, mit denen die Kids von Children’s Retreat tagsüber Hausaufgaben machen oder auch im Internet surfen durften. Jessa legte Alice’ Buch neben die Tastatur von einem, dann schaltete sie den Rechner an, wartete, bis er hochgefahren war und der Monitor anfing zu leuchten. Mit einem schnellen Blick in Richtung Fenster kalkulierte sie das Risiko, entdeckt zu werden.
Eher unwahrscheinlich.
Sie