Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

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Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange

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die davor …

      Die Erinnerung riss ab. Jessa wurde bewusst, dass sie schon eine ganze Weile regungslos mit diesem Umschlag in der Hand dasaß.

      »Willst du ihn nicht aufmachen?«, fragte Ms Trenton.

      Vor nichts auf der Welt hätte sie mehr Angst haben können.

      Betont lässig betrachtete Jessa den Brief von allen Seiten. Es war ein ganz normaler Umschlag: braun, gepolstert und mit einem breiten, ebenfalls braunen Klebestreifen verschlossen. Alice’ Name und die Anschrift von Children’s Retreat darauf waren mit verschnörkelter Handschrift geschrieben, vermutlich von einer Frau. Der Absender hingegen war gestempelt: eine Bibliothek in Haworth, Yorkshire.

      »Jessa?«, erkundigte sich Ms Trenton behutsam und Jessa begriff, dass schon wieder eine ganze Weile vergangen war. Sie fasste sich ein Herz, schob einen Finger unter die Lasche und riss den Umschlag auf. Ein Buch rutschte ihr entgegen. Sie erkannte es sofort. Es war eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Emily Brontës Sturmhöhe. Sie starrte auf das hellgrüne Cover, auf dem ein Gemälde mit drei Frauen abgebildet war, dann schlug sie das Buch auf. Alice Downton stand in der so vertrauten, verschnörkelten Schrift ihrer Schwester und in türkisfarbener Tinte auf der ersten Seite. Darunter die Adresse von Children’s Retreat. Die Wörter verschwammen, weil ihr Tränen in die Augen schossen. Sie drängte sie mit aller Macht zurück. Es war Alice’ Buch!

      Alice!

      Schickte sie ihr eine Nachricht?

      Jessa starrte das Buch an, dann bemerkte sie das Blatt, das zwischen den Seiten steckte. Ihre Hände zitterten, als sie es auseinanderfaltete. Es standen nur wenige, mit einer altmodischen Schreibmaschine geschriebene Zeilen darauf:

      Sehr geehrte Damen und Herren,

      dieses Buch wurde in einem der Regale unserer Bibliothek gefunden und wir vermuten, dass die junge Dame namens Alice Downton, deren Name vorn im Umschlag verzeichnet ist, es gern wiederhätte. Aus diesem Grund erlauben wir uns, es an Ihre Adresse zu schicken, in der Hoffnung, dass Sie es weiterleiten können.

      Mit freundlichen Grüßen,

       Clarice Galloway. Bibliothekarin

      Enttäuschung flutete Jessas Körper, so heftig, dass sie spürte, wie sie zu schwanken begann. Der Brief war nicht von Alice. Aus den Worten ging sogar ziemlich deutlich hervor, dass die Schreiberin Alice nicht einmal gekannt hatte.

      Jessa las den Brief noch einmal, suchte darin nach Hinweisen, was mit Alice geschehen sein könnte. Aber da war nichts bis auf die Tatsache, dass Alice in Haworth gewesen war. Und das wusste Jessa längst.

      Niedergeschlagen las sie den Brief ein drittes Mal, bevor sie ihn Ms Trenton gab. Die überflog die Zeilen. »Ach, Kind«, seufzte sie dann und reichte ihr den Brief zurück.

      Jessa fühlte sich, als würde sie auf einer schiefen Ebene ins Rutschen kommen und die Heimleiterin, der einzige Mensch, der sie sonst immer festgehalten hatte, konnte diesmal nichts dagegen tun.

      »Dr. Clarke wird mit dir darüber sprechen wollen.«

      Mit mechanischen Bewegungen faltete Jessa das Blatt zusammen. »Klar.«

      »Ich rufe ihn sofort an und kläre, dass du einen schnellen Termin bekommst.«

      »Gut.«

      Die Hand schon am Telefon, musterte Ms Trenton Jessa eindringlich. »Kann ich davon ausgehen, dass du keine Dummheiten machen wirst?«

      Jessa nickte.

      »Versprich es mir, Jessa!«

      Sie versprach es. »Darf ich gehen?«

      Ms Trenton sah nicht glücklich aus. »Natürlich.«

      Jessa schob Buch und Brief zurück in den Umschlag. Sie war schon an der Tür, als die Heimleiterin sie noch einmal aufhielt: »Jessica?«

      »Ja?«

      »Wir alle hier helfen dir mit dieser Sache, das weißt du, oder?«

      Jessa nickte. »Logisch«, sagte sie.

      Sie ging mit dem Umschlag auf das Zimmer, das sie sich mit einem anderen Mädchen teilen musste. Ginny war zum Glück nicht da, aber ihr Parfüm hing in der Luft. Ginnys Bett lag so voll mit Klamotten, Schmuck und Modezeitschriften, dass der Kram sich auf den Boden ergoss und kurz davor war, in Jessas Teil des Zimmers überzuschwappen. Mit dem Fuß schob Jessa die Sachen zurück über die imaginäre Grenze, die den Raum genau in der Mitte teilte.

      Ihr eigenes Bett war ungemacht. Jessa warf sich darauf. Sie nahm den Umschlag und betrachtete die gestempelte Absendeadresse darauf. Öffentliche Bibliothek Haworth.

      Irgendwie passte es zu Alice, dachte sie, dass man ihr Buch in einer öffentlichen Bibliothek gefunden hatte. Zusammen waren sie oft in der Bibliothek gewesen … Ein seltsam spitzes Gefühl drang durch das Lodern in Jessas Innerstem, als eine Erinnerung an den Sommer direkt nach dem Tod ihrer Eltern in ihr aufflackerte …

      »Und das hier, das aussieht wie eine Schlange? Was ist das für ein Buchstabe?«, fragte sie. Sie hockte auf ihrem Bett, hatte den Kopf tief über ein Buch mit lustigen Geschichten gebeugt, die sie sich nur mühsam zusammenbuchstabieren konnte.

      Alice hob den Blick von ihrem eigenen Buch und schaute auf Jessas aufgeschlagene Seite. »Das ist ein S«, erklärte sie. »S. Wie in Seele.«

      Jessa sagte es nach. »Seele. Was ist eine Seele?« Gespannt sah sie ihre Schwester an. Alice saß neben ihr, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Sie las natürlich kein Baby-Bilderbuch mehr wie Jessa, die das Lesen ja erst noch lernen musste, sondern irgendeinen spannenden Roman.

       »Eine Seele.« Alice beugte sich vor und tippte Jessa erst gegen den Arm, dann gegen die Stirn. »Du hast einen Körper und einen Verstand. Manche Menschen glauben, dass es außerdem noch etwas gibt, das uns ausmacht. Sie nennen das die Seele. Sie glauben, dass man die braucht, damit man jemanden liebhaben kann.«

       »So wie du mich?«

       »So wie ich dich.«

       Jessa legte den Kopf schief. »Dann musst du eine ganz starke Seele haben!«

       Alice lachte. »Warum das denn?«

       »Na, weil du mich doch so doll lieb hast.«

       Da wurde Alice’ Gesichtsausdruck ganz weich. »Du bist ganz schön klug, weißt du das?«

      Mit dieser wehmütigen Erinnerung im Herzen kehrte Jessa aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Sie wusste noch genau, wie sehr sie sich damals über Alice’ Kompliment gefreut hatte. Um den Schmerz zu unterdrücken, den die Erinnerung mit sich brachte, begann sie, das Buch sorgfältig durchzublättern. Alice hatte darin unzählige Spuren hinterlassen: Unterstreichungen, kurze Bemerkungen am Rand und kleine Zeichnungen von windzerzausten Bäumen und Häusern auf den freien Seiten zwischen den Kapiteln. Jessa suchte nach der Seite, auf der das Zitat stand, das sie und Alice sich beide auf die Unterarme hatten tätowieren

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