Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange
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Einen Moment stand er unschlüssig im Raum und starrte gegen die Tür. Nach einer Weile gab er sich einen Ruck. Er ging ins Schlafzimmer und schob die Klamotten zur Seite, die er vorhin aufs Bett geworfen hatte.
Eine mit Schnitzereien reich verzierte Kiste kam darunter zum Vorschein.
Er öffnete sie.
Darin lag der Trommelrevolver, den er Adrian abgenommen hatte, und daneben noch ein zweiter, genau gleicher. Sachte strich Christopher mit den Fingerspitzen über das matte Metall.
Er fröstelte, weil es sich so gut anfühlte, die Waffen in Reichweite zu wissen. Er war froh, dass Adrian vorhin beim Reinkommen die Kiste auf seinem Bett nicht gesehen hatte. Sein Bruder hatte keine Ahnung davon, dass er die Revolver seit letzter Woche unter seinem Bett aufbewahrte. Und das sollte auch so bleiben, denn auf keinen Fall wollte Christopher, dass sich eine Szene wie neulich wiederholte. Es hatte ihn schockiert, dass ausgerechnet Adrian vorgeschlagen hatte, ihren vor fünf Jahren geschlossenen Schwur durchzuziehen und die Waffen gegeneinander zu erheben. War es nicht eigentlich seine Rolle, ständig mit einem Fuß über dem Abgrund zu schweben?
Er nahm die Kiste, verstaute sie unter seinem Bett und ging zurück ins Wohnzimmer zu seinem Flügel, bei dem er ein paar Tasten anschlug. Die Melodie – eine Variation von Beethovens Mondscheinsonate – perlte durch den hohen Raum.
Draußen vor dem Fenster wurde der Nebel noch ein bisschen dichter. Das Schachspiel hatte ihm für einige Stunden Erleichterung verschafft, aber jetzt fühlte er sich wieder überreizt und müde, melancholisch und aufgekratzt, alles gleichzeitig.
Seufzend klappte er den Deckel über den Tasten zu.
Der Nebel schien nach ihm greifen zu wollen.
Sein Herzschlag beschleunigte sich und diesmal warf Christopher sich auf dem Absatz herum und eilte aus dem Raum. Mit langen Schritten lief er den Gang entlang, vorbei an den nachgedunkelten Gemälden seiner Vorfahren und über die roten Teppiche, die seine Mutter angeschafft hatte. Über eine schmale Steintreppe gelangte er ins Untergeschoss und von dort aus zu den ehemaligen Stallungen. Nur eine der Boxen, in denen früher die Kutschpferde gestanden hatten, war sauber gefegt. In ihr stand Christophers Enduro.
Er lächelte, als er sie betrachtete. Dann schob er die Geländemaschine nach draußen.
»Bleiben Sie unbedingt auf dem Weg! Wenn Sie bei dem Nebel ins Moor laufen, kommen Sie nicht wieder zurück.« Das waren die letzten Worte gewesen, die die Frau auf dem Nebensitz Jessa mitgegeben hatte.
Sie umklammerte die Riemen ihres Rucksacks. Mit jedem Schritt, der sie weiter von der Straße wegführte, schien sich der Nebel dichter um sie zu schließen. Zuerst sah sie noch die Konturen der umliegenden Berge. Nach einer Weile dann waren da nur noch die niedrigen Steinmauern rechts und links. Tief atmete sie die feuchte Luft ein. Sie verlor jedes Zeitgefühl und als plötzlich das Geräusch eines Motorrads über das Moor hallte, zuckte sie zusammen. Doch die Maschine schien weit weg zu sein. Gleich darauf jedenfalls war sie nicht mehr zu hören.
Die Nebelschwaden wurden dichter und es war, als würde sich Watte auf Jessas Ohren legen. Kurz darauf glaubte sie zu hören, wie jemand einen Namen rief, aber sie konnte nicht verstehen, was für einen. Schritte näherten sich ihr. Mit einem Ruck blieb sie stehen, um zu lauschen, aber da war … nichts. Nur ihr eigenes klopfendes Herz und tiefe, drückende Stille.
Langsam ging sie weiter und ermahnte sich, nicht die Nerven zu verlieren.
Es war nur Nebel.
In einem Blog über Yorkshire, den sie auf dem Weg hierher gelesen hatte, hatte jemand von der eigenartigen Akustik geschrieben, die über dem Moor herrschte, wenn Nebel war. Geräusche trugen dann sehr weit und wurden gleich darauf von dem dichten Grau verschluckt. Das hatte rein gar nichts mit Hexenwerk zu tun.
Unheimlich war es aber trotzdem.
Sie lenkte sich davon ab, indem sie sich überlegte, was sie tun würde, wenn sie bei den Ruinen von High Moor Grange angekommen war. Natürlich würde sie sich umsehen. Vielleicht würde sie sich dabei vorstellen, wie Alice ebenfalls dort gewesen war. Und vielleicht spürte sie ja auch Alice’ Anwesenheit, so wie in ihren Träumen. Sie wusste nicht, ob sie sich das wünschte oder ob sie doch eher Angst davor hatte.
Ein unangenehmes Kribbeln rann ihren Rücken hinunter.
Mit einer gehörigen Portion Trotz marschierte sie weiter und landete nur ein paar Minuten später bei einem Hindernis. Die Mauern liefen hier enger zusammen und endeten bei einem Steinbogen, in den ein über zwei Meter hohes schmiedeeisernes Tor eingelassen war. An der höchsten Stelle des Bogens befand sich ein Wappen. Es zeigte zwei gekreuzte Schwerter und darunter die Darstellung eines großen Wolfes mit gesträubtem Fell.
Jessa hatte dieses Wappen auch auf der Website gesehen, auf der sie den Kupferstich gefunden hatte. Es gehörte der Familie, die vor Jahrhunderten das Anwesen erbaut hatte.
Maschendraht reichte bis an den Torbogen und verlor sich rechts und links im Nebel. Jemand hatte offenbar etwas dagegen, dass man sein Land betrat. Ob das gesamte Land eingezäunt war? Schwer vorstellbar. Vermutlich musste sie nur lange genug an dem Zaun entlanggehen, um irgendwann sein Ende zu erreichen.
Andererseits hatte die Frau im Bus ihr geraten, auf dem Weg zu bleiben.
Nachdenklich starrte Jessa das moderne Sicherheitsschloss des Tores an. Der Maschendrahtzaun war ungefähr zwei Meter hoch. Sie war schon über höhere geklettert. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sie rückte ihren Rucksack zurecht, dann griff sie in die Maschen, stemmte die Füße dagegen und zog sich hoch.
Jenseits des Zauns führte der Weg weiter leicht bergauf. Sie marschierte durch den dichten Nebel. Die Geräusche waren mal da, dann wieder waren sie weg.
Irgendwann blieb Jessa mit einem Ruck stehen.
Hatte da jemand eine Melodie gesummt?
An ihrem gesamten Körper richteten sich die Haare auf.
»Alice?«
Die wispernde Stimme erklang so unvermittelt und vor allem so nah, dass Jessa mit einem erschrockenen Schrei auf den Lippen herumwirbelte. Ihr Blick bohrte sich in den undurchdringlichen Nebel, versuchte, ihn zu durchdringen.
Vergeblich.
»Ist da wer?«, fragte sie mit dünner Stimme.
Sie erhielt keine Antwort. Wieder hörte es sich an, als würden weit entfernt erklingende Stimmen herangetragen werden, wieder war da das Brummen dieses Motorrads. Jessa straffte die Schultern. Was war sie nur für ein Schisser! Die gewisperte Stimme war bestimmt nur Einbildung gewesen.
Sie hatte sich gerade selbst davon überzeugt, dass es so war, als der Nebel das Geräusch des Motorrads herantrug. Und diesmal klang es wirklich nah.
Blöd, dass der Nebel jedes Hindernis verbarg, dachte Christopher. Das Risiko, schwer zu verunglücken, war riesig dadurch, zumal er, wie immer, keinen Helm trug.
Es war ihm egal. Die Geschwindigkeit vertrieb die Unruhe aus seinen Gliedern. Und selbst wenn er sich den Schädel an einer Mauer einrammte, würde ihn das schließlich nicht töten.
Er gab noch etwas mehr Gas. Die Enduro bäumte sich auf, grub das Profil ihres Hinterrades tiefer in die nebelfeuchte Erde und