Helle und die kalte Hand. Judith Arendt

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Helle und die kalte Hand - Judith Arendt Helle Jespers ermittelt

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wieder nach vorne, versuchte, sich zu orientieren. Hier war sie schon einmal gewesen, das wusste sie, sie hatten einen Ausflug gemacht. Weit dort hinten war das Meer und davor die Kirche.

      Es war kein guter Ort, das hatte sie gespürt, als sie hier gewesen waren. Es herrschten Erdgeister tief im Sand. Sie hatte es unter ihren Füßen gespürt, damals, der Sand war tückisch, er vibrierte, und sie wusste, dass hier Geister und Dämonen lebten, die älter und mächtiger waren als die Menschheit. Sie wusste es, weil sie diese Wesen von zu Hause kannte.

      Die Geister, die im Wasser lebten und die die Fischer zu besänftigten suchten, indem sie ihnen einen Teil des Fangs opferten.

      Die Geister, die im Wald lebten, auf den Bäumen, sie sprangen herab und verbissen sich in die Kehlen der Menschen.

      Oder die Dämonen der Luft, die sich durch schlechten Atem bemerkbar machten, sie drangen durch die Poren in die Menschen ein und nahmen von ihnen Besitz. So jedenfalls hatte es ihre Mutter erzählt und ihre Großmutter, und sie glaubte es.

      Sie hatte Menschen gesehen, die von Dämonen besessen waren, auch hier in Dänemark.

      Einer der Männer brüllte ihr etwas hinterher, und die Stimme war nah. Sie folgten ihr.

      Jetzt wagte sie es nicht mehr zurückzublicken.

      Stattdessen rannte sie noch schneller.

      Die Kirche kam immer näher, sie sah den gestuften Turm, der sich wie ein düsterer Schatten gegen den Himmel abhob. Aber sie wollte keinen Schutz in der Kirche suchen, die Kirche war kein Haus Gottes mehr, Gott hatte diese Kirche verlassen, weil die Dämonen ihn besiegt hatten.

      Stattdessen überließ er die Mauern der Kirche dem Sand. Das war kein Zufluchtsort für sie, sie musste weiter, immer weiter. Sie bog ab von dem Weg, der zur Kirche führte. Sie wollte die breite Düne überqueren und zum Meer.

      In ihrem Rücken spürte sie die Gegenwart der Männer. Sie konnte sie nicht hören, sie hörte nur das Pulsieren des Blutes in ihren Ohren, ihren Atem, der schwer und stoßweise aus ihr hervorbrach, ein ängstliches Wimmern dann und wann.

      Sie verlor ihren Schuh, einen flachen Ballerina, doch davon ließ sie sich nicht aufhalten, sie musste schneller sein.

      Der Sand war eiskalt, im ersten Moment glaubte sie, die Füße frören ihr ab. Sie dachte an den warmen, trockenen und weichen Sand ihrer Heimat, die weiße Decke, die jemand in der gleißenden Sonne ausgebreitet hatte wie ein feines Tuch.

      Es war mühsam, im tiefen Sand zu laufen. Warum bloß war sie hierhergeflüchtet?

      Es war das Meer, dachte sie jetzt, während sie rannte, rannte, rannte. Die Lungen stachen, ihre Beine wurden schwer, aber sie wollte leben. Wollte überleben, sie hatte es so weit geschafft, es durfte nicht enden. Nicht so.

      Sie flüchtete zum Meer, weil es ihr vertraut war, sie hätte sonst nicht gewusst wohin. Das Meer war ihr vertraut, es verband sie mit ihrer Heimat, wenn sie am Meer stand und in die endlose Weite blickte. Irgendwo dort, hinter dem Horizont, am anderen Ende der Welt, war ihr Zuhause. Ihre Schwester. Ihr toter Mann.

      Sie wagte nicht zurückzublicken, richtete ihren Blick starr nach vorne. Das Dach der Kirche sah sie nicht mehr, dafür in der Ferne das dunkle fremde Wasser, das düstere kalte Meer, das so ganz anders war als das Meer ihrer Heimat. Und ihr trotzdem die Hoffnung gab, sie könnte es nach Hause schaffen. Irgendwann zurückkehren dürfen. Übers Meer war sie gekommen, übers Meer würde sie nach Hause fahren.

      Ach, Luzon. Ach, Pilita.

      Dann fiel sie. Plötzlich, unvorhergesehen, sie hatte die Abbruchkante nicht rechtzeitig gesehen.

      Die Luft blieb ihr weg, sie wollte schreien, biss sich aber fest in den Arm, um sich nicht zu verraten.

      Der Fall war weder tief noch schmerzhaft, sie kullerte lediglich im tiefen Sand ein Stück abwärts. Über ihr wölbte sich die Kante.

      Sie warf einen Blick nach oben. Vielleicht sollte sie hierbleiben. Sich noch tiefer in die Sandmauer drücken, von oben konnte man sie nicht sofort entdecken. Wenn sie Glück hatte, blieb sie für die Blicke ihrer Verfolger verborgen. Sie war so zart und schmal.

      Verzweifelt schaufelte sie mit ihren Händen, klein und starr vor Kälte, eine Kuhle in die Sandmauer. Sie schabte und riss immer mehr Sand aus der Düne, sie war wie von Sinnen, wollte sich im Sand verkriechen, sie dachte nicht mehr an die Erdgeister, nur an die Männer, die ihr auf den Fersen waren.

      Ihr Atem ging schwer, sie stöhnte, dann presste sie die Lippen aufeinander, damit man sie nicht hören konnte. Drückte sich mit dem Rücken in die Mauer aus Sand, schloss die Augen, fest, kniff sie zu, wie sie es als Kind getan hatte, wenn ihr Vater den Hühnern die Köpfe abhackte.

      Nichts geschah, wenn man es nicht sah.

      Sie hörte die Stimmen der Männer nun ganz nah.

      Und dann war da plötzlich dieser Druck. Er kam von oben, drückte ihren schmalen Körper nieder, der keine Kraft hatte, sich zu wehren, ihr schoss noch der Gedanke durch den Kopf, dass sie hier rausmüsste, der Unterschlupf war eine Falle.

      Aber da war es bereits zu spät.

      Acht Monate später

      Skagen

      Außentemperatur 8 Grad

      Die Feuchtigkeit drang bis auf die Knochen. Der dicke Wollpulli unter dem Parka, ihre Füße in den Red-Wing-Boots, die Hosenbeine ihrer Jeans – alles fühlte sich feucht, klamm und kalt an. Helles Haare klebten am Kopf, nass vom Regen und schmierig von der salzigen Gischt des Meeres. Ein vollgesogener Schwamm, das war sie, und es wunderte Helle, dass ihre Haut mittlerweile nicht aussah wie die einer Wasserleiche – wellig, grün und aufgeschwemmt.

      Seit Wochen und Monaten regnete es. Ende August hatte es angefangen, nun war Mitte November, und wenn es einmal für wenige Stunden trocken blieb, dann schien es, als wolle der Wettergott nur Atem holen, um einen weiteren, noch schlimmeren Regen auf Jütland niedergehen zu lassen. Im vergangenen Jahr hatte der Sommer gefühlte acht Monate angedauert, die Äcker verdorrten, im Fluss trieben tote Fische, und im Oktober hatte Helle sich geweigert, auch nur einmal noch auf der Terrasse zu grillen, sie hatte sich stattdessen nach dem Herbst gesehnt, der einfach nicht gekommen war.

      Und nun das.

      Sogar der Hund hatte den Regen satt. Emil wollte nicht mehr mit ihr am Strand spazieren gehen. Wenn es an der Zeit war, trat er hinter Helle durch die große Panoramascheibe, durch die man vom Wohnzimmer direkt in die Dünen gelangte, hob sein Bein am allerersten Sandhaufen und setzte sich anschließend trotzig daneben. Er beobachtete sein irres Frauchen dabei, wie diese in ihrem Regenzeug in Richtung Meer stapfte, ihn abwechselnd zu locken versuchte oder autoritär mit dem Fuß aufstampfte, um ihm einen Gehorsam abzuverlangen, den er sein Lebtag nicht besessen hatte.

      Jetzt lag der große alte Mischling unter der Wartebank in der Bahnhofshalle von Fredrikshavn, war schlafend zur Seite gekippt, sein helles Fell auf dem pfützennassen Betonboden. Helle vermied es, zu ihm hinunterzublicken, es schmerzte sie, dass ihr alter Geselle diesen feuchten Pelz mit sich herumtragen musste und sich nicht am Kaminfeuer zu Hause wärmen konnte. Sie befürchtete, er würde sich eine Lungenentzündung holen.

      Ihre klammen Finger umfassten den Thermosbecher fester, als könne sie sich daran wärmen,

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