Helle und die kalte Hand. Judith Arendt
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»Wie geht es deinem Vater?«, erkundigte sich Amira bei Bengt, der gerade antworten wollte, als Helles Handy den Eingang einer Nachricht vermeldete. Seit Leif auf Reisen war, hatte Helle den Apparat stets in greifbarer Nähe, sie wartete sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen von ihrem Sohn.
Aber die Nachricht war von Ole. Er hatte ein Foto geschickt. Helle begriff nicht gleich, was darauf abgebildet war, ein Gegenstand im grellen Blitzlicht, außen herum schwarze Nacht.
Dann erkannte sie es. Eine Hand. Die Finger, absurd gekrümmt, ragten mahnend in die Nacht. Das war die Hand eines Toten, und so, wie es aussah, war er oder sie schon lange tot.
Ole hatte nur zwei Worte daruntergeschrieben.
»Råbjerg Mile.«
Aalborg
Innentemperatur 18 Grad
Während Pilita im Zimmer stand und sich für die Arbeit zurechtmachte, den dicken Anorak anzog, eine Mütze, Handschuhe und drei Paar Socken in den dünnen Schuhen gegen die Kälte da draußen, zogen dieselben Bilder vor ihrem geistigen Auge vorbei. Es war ein Mantra, sie musste sich ständig daran erinnern, warum sie nicht mehr in Luzon war, sondern hier, in Aalborg.
Ich habe tief geschlafen. So tief und traumlos wie noch nie. Als ich aufwache, dröhnt mein Kopf, ich blinzle mühsam gegen die Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der Hütte fallen. Wieso ist es so hell? Instinktiv taste ich nach Imelda, nach meiner Schwester. Aber meine Finger greifen ins Leere, ich finde sie nicht. Auch nicht den kleinen Jomel.
Wo ist Imelda? Ist sie draußen, Arbeit suchen? Wasser holen? Ist sie am Strand? Und der Kleine, hat sie ihn mitgenommen? Er sollte immer zwischen uns liegen, geschützt. So ist es, seit er auf der Welt ist.
Pilita, Imelda und Jomel.
Imelda hat sich noch nie weggeschlichen. Sie sagt mir immer, wohin sie geht. Weil sie Angst hat. Die Angst, die uns alle begleitet, seit sie Imeldas Mann Brillante abgeholt haben. Jomels Vater. Seitdem sind wir nur noch zu dritt.
Pilita, Imelda und Jomel.
Wir passen aufeinander auf. Wer weiß, ob sie uns nicht auch holen. Imelda und Jomel. Oder sogar mich.
Ich setze mich auf. Er sollte hier liegen, neben mir, sein kleiner heißer Körper an mich geschmiegt, die Fingerchen umklammern eine meiner Haarsträhnen. Auf seiner anderen Seite der Körper von Imelda. Er soll immer in Sicherheit sein, beschützt.
Mein Herz trommelt gegen die Brust, ich höre mein Blut im Ohr rauschen, weil ich kurz, ganz kurz daran denke, ob sie sie geholt haben. Alle beide, im Schutz der Nacht. Und ich habe geschlafen, habe meine Pflicht verletzt, habe mein Versprechen gebrochen.
Aber dann sehe ich, dass Imeldas Sachen verschwunden sind. Und die Sachen des Kleinen.
Die große Plastiktasche.
Imelda hat mich verlassen.
Jetzt erst sehe ich den Zettel, den meine Schwester am Spiegel befestigt hat.
Ich stehe auf und will es nicht glauben.
Sie hat Angst, schreibt sie, Angst, dass sie sie holen wie Brillante. Und sie hat Angst, uns alle damit zu gefährden, ihre Familie. Mutter und Vater, ihren Sohn, mich und auch meinen Mann Filipe. Deshalb hat sie das Land verlassen. Heimlich, in der Nacht.
Ich lese den Brief, aber ich verstehe nicht, warum sie alleine gegangen ist. Warum sie mir nichts gesagt hat, warum wir nicht zusammen gegangen sind, Jomel in unserer Mitte, so, wie es sein soll.
Pilita, Imelda und Jomel.
Ich fühle mich betrogen, aber das hält mich nicht davon ab, ihr zu folgen. Ich kann sie nicht alleinlassen. Ich werde ihr folgen und sie finden. Gemeinsam werden wir es schaffen, vielleicht in einem anderen Land.
Unsere Zukunft ist Europa. So sagte es Filipe, der in der Welt herumkommt. So steht es in Imeldas Brief geschrieben, und so glaubte auch ich es.
Draußen vor der Tür ertönte das Hupen. Dreimal kurz. Pilita öffnete die Zimmertür, im Gang warteten schon die anderen, und so gingen sie, acht Frauen, gemeinsam die Treppe hinunter und verließen das Haus. Öffneten die Tür des Kleinbusses und setzten sich stumm auf ihre Plätze.
Råbjerg Mile
Außentemperatur 2 Grad
Helle brauchte keine fünf Minuten, um den Parkplatz in der Nähe der Wanderdüne zu erreichen. Amira hatte sich ihr angeschlossen, sie waren, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, im höchsten Tempo, zu dem Helles Volvo imstande war, dorthin gerast.
Das Blaulicht strahlte ihnen schon von weitem entgegen.
Jan-Cristofer stieg aus seinem Wagen, als Helle neben ihm parkte. Er war ebenfalls in Zivil. Sofort nahm er Amira in den Arm und drückte sie fest.
»Ole ist am Fundort.«
Helle beschloss, schon einmal vorzugehen, sie wusste, dass die beiden gerne ein paar Worte alleine sprechen wollten. Auch Jan-Cristofer hatte bei dem Fall um den Toten im Tivoli Schaden an Körper und Seele erlitten, auch er hatte erst einmal eine Auszeit nehmen müssen. Aber nicht nur das verband die beiden miteinander. Amira hatte im selben Haus gelebt wie Jan-Cristofer, der ihr die Wohnung dort besorgt hatte. Er war doppelt so alt wie sie, geschieden und hatte einen Sohn, Markus. Um Amira hatte er sich immer wie ein Vater gekümmert, sie war wie Familie für den alleinstehenden Kollegen.
Helle stapfte los. Sie hatte ihre Stablampe mitgenommen, die einen Strahl gleißenden Lichts in die Regennacht schickte. Zur Kirche, die Jahr für Jahr ein Stück mehr vom Sand verschluckt wurde, führte ein Weg quer durch die Dünenlandschaft. Im Sommer waren hier viele Touristen unterwegs, im Herbst und Winter trafen sich lediglich ein paar Hundebesitzer und Jogger.
Aber mitten in der Nacht? Bei strömendem Regen?
Kurz vor der Kirche sah Helle in Richtung des Meeres helles Licht.
Sie wollte den Weg verlassen und direkt darauf zulaufen, aber dann hielt sie inne. Sie würde Spuren hinterlassen und damit der Spurensicherung ihre bei diesen Bedingungen ohnehin fast unmögliche Arbeit noch erschweren. Sie griff zum Handy und rief Ole an, der nur ein paar Meter entfernt stand.
»Sag mal, wo seid ihr langgegangen? Ich will nicht auch noch …«
»Vergiss es«, fiel Ole ihr ins Wort. »Das ist ne alte Leiche, die liegt schon lange hier, Spuren gibt’s nicht mehr.«
Helle seufzte, schob das Handy in die Tasche ihres Ölzeugs und stapfte los. Als die Nachricht von Ole gekommen war, hatte sie