Helle und die kalte Hand. Judith Arendt
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Читать онлайн книгу Helle und die kalte Hand - Judith Arendt страница 7
»Willst du mir meinen Job erklären?« Ingvar knurrte verärgert. Auf Dr. Holt, Allgemeinmediziner aus Fredrikshavn, mittlerweile in Rente, ließ er nichts kommen, es war einer seiner Weggefährten von Anfang an. Er spielte Rechtsmediziner und leistete die ersten Begutachtungen bei Unfällen und kleineren Gewaltdelikten. Bei Mord war er hoffnungslos überfordert.
»Aber schön, dass du so viel von mir gelernt hast«, schickte Ingvar hinterher.
Einer der Fredrikshavner Kollegen feixte. Helle streckte ihm die Zunge raus.
»Skagen, schaut euch an, wer als vermisst gemeldet wurde. Vielleicht passt etwas zu unserem Fund hier.« Ingvar richtete sich auf und blickte streng wie ein Herbergsvater in die Runde. »Sagen wir mal die letzten zwei Jahre.«
»In Skagen und Fredrikshavn?«, erkundigte sich Ole. »Ich glaube nicht …«
»In Dänemark! Herrgott noch mal, Halstrup! Wie beschränkt bist du?« Ingvar schüttelte genervt den Kopf.
Ole sah beschämt zu Boden.
»Ole ist nicht …«, wollte Helle sich vor ihren jungen Kollegen stellen, aber Ingvar sprach einfach weiter, als existierte sie nicht.
»Am besten wird es sein, wenn du das selbst machst, Helle. Die Vermissten durchgehen. Du bleibst hier am Tatort, Halstrup. Mit Amira, wenn sie schon mal da ist.«
Den Seitenhieb konnte Ingvar sich nicht verkneifen. Er sah seine Autorität untergraben – schließlich hatte er die Digitalisierung der Skagener Wache abgelehnt, und dass Sören Gudmund sie beim Polizeipräsidenten doch für Helle durchgedrückt hatte, erregte sein Missfallen. Und das ließ er Helle bei jeder Gelegenheit spüren. Allerdings hatte sie beschlossen, auf Durchzug zu schalten.
»Linn, du gibst eine Pressemitteilung raus. Vielleicht kommt das noch morgen in die Blätter, und es melden sich Zeugen.«
Helle konnte förmlich sehen, wie Ingvar zu Höchstform auflief. Er schien regelrecht ein paar Zentimeter zu wachsen. Sie verzichtete auf den Einwand, dass es nicht besonders klug war, die Presse zu benachrichtigen, bevor irgendetwas über die Leiche in der Düne bekannt war. Ein Zeitungsbericht würde nämlich vor allem Neugierige und Gaffer auf den Plan rufen. Und ein paar Spinner, die irgendeine Nebensächlichkeit beobachtet hatten und sich wichtigmachen wollten.
»Da wir die Ergebnisse der Spurensicherer und des Rechtsmediziners abwarten müssen, treffen wir uns erst morgen um elf. In meinem Büro.«
Er drehte sich zu Helle und Ole um. »Es reicht, wenn einer von euch kommt. Am besten du, Helle. Dann kannst du uns die Ergebnisse deiner Recherche mitteilen.«
»Übernimmst du den Fall?« Helle kannte die Antwort, aber sie musste trotzdem fragen.
»Natürlich. Es ist ja meine Zuständigkeit.« Ingvar sah sie milde lächelnd an. »Ich weiß gar nicht, warum du fragst.«
Damit wandte er sich ab und machte seinen Leuten ein Zeichen, den Tatort zu verlassen. Helle und Ole blieben im strömenden Regen in der Dunkelheit zurück.
»Du gehst nach Hause, nimmst eine heiße Dusche und legst dich aufs Ohr«, wies Helle Ole an.
»Aber …«
»Ist mir scheißegal. Ich brauch dich lebendig und nicht mit einer Lungenentzündung. Hol dir eine Mütze Schlaf, dann treffen wir uns in der Wache. Sagen wir um sieben. Ich halte hier die Stellung.«
Ingvar würde gar nicht merken, dass sie seiner Anweisung nicht Folge leisteten, dachte Helle. Hauptsache, es wartete hier jemand auf die Leute aus Aalborg und sorgte dafür, dass der Tatort gesichert blieb. Sie gab Ole noch ein paar weitere Instruktionen, dann verließ der junge Mann sichtlich erleichtert den Strand.
Helle kauerte sich in die Hocke, zog den Südwester noch tiefer in die Stirn, goss sich einen Becher heiße Brühe ein und starrte auf die gespenstisch erleuchtete Hand.
Sie hörte durch den Regen, der ihr auf Kopf und Schultern prasselte, die Wellen an den Strand branden. Roch den nassen Sand, frisch und sauber, den salzigen Tang, muffiges Treibholz.
Helle spürte, wie sie ruhig wurde. Und fokussiert. Es war gerade gut, so wie es war. Allein hier in der Nacht in der Düne. Mit einer Hand. Niemand quatschte, keiner lenkte sie von ihren Gedanken ab.
Unter dem Regenzeug war Helle trocken und warm, die depressive Stimmung, die sie in den letzten Tagen und Wochen umklammert gehalten hatte, war verflogen, ihr Herz schlug kräftig und gleichmäßig, sie fühlte sich lebendig und energiegeladen.
Je länger sie die Hand betrachtete, desto sicherer war sie sich, dass sie die Ermittlungsarbeit nicht allein Ingvar und seinem Team in Fredrikshavn überlassen wollte. Ingvar war kein schlechter Polizist, aber er stand kurz vor der Pensionierung, war starrköpfig und seine Methoden von gestern. Sicher stellte er sich vor, wie er den spektakulären Fall brillant lösen und mit einer Auszeichnung vom Polizeipräsidenten in den Ruhestand verabschiedet werden würde.
Helle zog ihr Handy aus der Tasche. Ohne nachzudenken leitete sie die Nachricht von Ole – das Foto mit dem Text »Råbjerg Mile« – weiter.
Sekunden später kam der Anruf.
Skagen
Innentemperatur 19 Grad
»Achthundert Stück.« Mit einem Ächzen stellte der Praktikant den großen Karton neben Kierans Schreibtisch ab. Der warf nur einen kurzen Seitenblick darauf.
»Zähl nach.«
»Was?« Der Praktikant starrte ihn ungläubig an. »Aber …«
»Wenn ich sage, zähl nach, dann zählst du nach.«
Er hatte keinen Bock, sich mit dem Typen auseinanderzusetzen. Die waren doch alle strohdumm, diese Praktikanten. Und das war noch nicht einmal das Schlimmste. Obendrein waren sie faul. Eine Kombi, die Kieran Jensen verachtete wie nichts sonst. Seiner Meinung nach konnte man gerne entweder das eine oder das andere sein. War man dumm, sollte man zum Ausgleich doppelt so tüchtig sein. Dumme waren gute Arbeiter, er wusste das aus seiner Zeit als Vorarbeiter. War man faul, hatte man bei ihm nichts verloren. Faule konnten an die Uni gehen oder was im kulturellen Bereich machen, da fielen sie nicht auf und richteten keinen Schaden an. Aber in seiner Nationalpartiet, unter seinen Augen hatten Faule nichts verloren.
Frauen zum Beispiel, die konnten sich Faulheit erst recht nicht leisten. Seine Frau wusste das ganz genau. Sie hatte alles im Griff, Haushalt, die Kinder, den Garten. Und Kieran wusste das zu schätzen. Mehr noch: Seine Frau tat es nicht ihm zuliebe. Nicht nur. Sie war fleißig und pflichtbewusst, weil sie es so wollte. Es gefiel ihr, dass sie ihr eigenes Reich so gut unter Kontrolle hatte. Scheiß auf die Emanzipation.
»Na, wird‘s bald?« Er hatte aus den Augenwinkeln gesehen, dass der Praktikant – er hatte keinen Namen, niemals würde sich Kieran den Namen eines Praktikanten merken – keine Anstalten gemacht hatte, den Karton zu öffnen. »Wenn auch nur einer fehlt, ziehe ich das der Druckerei von der Rechnung ab.«
Der Praktikant starrte in den Karton. Dort lagen die Flyer säuberlich gebündelt nebeneinander.