Helle und die kalte Hand. Judith Arendt
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Читать онлайн книгу Helle und die kalte Hand - Judith Arendt страница 3
Endlich lief der Zug aus Kopenhagen ein. Die blecherne Stimme der Ansagerin schepperte unverständlich aus den Lautsprechern, in der Ferne zeigten sich die gelben Lichter, wie Augen eines Drachen, der sich durch Dunkelheit und strömenden Regen seinen Weg bahnte.
Kurz überlegte Helle, ob sie aufstehen und Amira, ihre ehemalige Polizeianwärterin, auf dem Bahnsteig abfangen sollte, aber dann blieb sie doch sitzen. Sie wollte nicht, dass Emil sich bemüßigt fühlte, ihr zu folgen. Jedes Aufstehen war mit Anstrengung und Schmerzen für den arthrosegeplagten Hundekörper verbunden.
Beinahe lautlos glitt der Zug in den Bahnhof, ein leises metallisches Geräusch zeigte an, dass er zum Stehen gekommen war. Die Türen gingen auf, einige wenige Reisende sprangen aus den Wagen und hasteten den nassen Bahnsteig entlang, die Köpfe tief zwischen die Schultern gezogen. Dunkle Regenjacken, dicke Schuhe, wenige Wollmützen, Schirme, Schals – eine dampfende, feuchte und deprimierte Schar Reisender.
Fünf Uhr am Nachmittag und schon stockfinster im kalten Regen.
»Hej Fredrikshavn«, sagte Amira und grinste.
Mit einer routinierten Armbewegung schob Amira kurz darauf die leeren Tüten von Knabberkram, Wasserflaschen, eine Dose mit Emils Leckerli, die Hundeleine und zwei leere CD-Hüllen (Helle konnte sich verflixt noch eins nicht daran erinnern, wem sie die Patti Smith ausgeliehen hatte und warum die Hülle, nicht aber die CD da war) vom Beifahrersitz.
»Hat sich nichts verändert«, bemerkte die junge Frau und schickte einen strengen Blick zu Helle.
Die nickte und schämte sich kurz ihrer rollenden Müllkippe, während sie die sperrige Rampe aus Hartplastik für Emil aufklappte. Anders schaffte er es nicht mehr in den Kofferraum. Während der Hund mürrisch über die Rampe hochtrottete, schob Helle Amiras Rucksack auf den Rücksitz ihres Volvos. Direkt neben die große Kiste mit der Fritteuse, die Bengt von Kollegen zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte und die seitdem – ein halbes Jahr immerhin – von Helle durch die Gegend gefahren wurde in der Absicht, sie bei nächster Gelegenheit irgendwo zu verkaufen. Wahrscheinlicher war, dass das ungeliebte Ding im Lauf des nächsten halben Jahres im Keller bei all dem anderen Lebensmüll landete, der Helles Energiekanäle verstopfte.
»Eine Fritteuse, ernsthaft?« Amira hatte sich zu ihrer ehemaligen Chefin nach hinten gedreht und beobachtete, was diese mit dem Rucksack anstellte, der auf der Rückbank ebenso wenig Platz hatte wie der Karton und die Hunderampe.
»Frag nicht«, antwortete Helle mit zusammengebissenen Zähnen. Sie schichtete mühsam um, kleiner Müll wurde in den Fußraum verbannt, die Kiste rutschte hinter den Beifahrersitz, der Rucksack wurde aufrecht danebengepresst und die Rampe – Emil hatte sich bereits stöhnend im Kofferraum zusammengerollt – zusammengeklappt hinter den Fahrersitz geklemmt.
»Ich finde, du solltest rauchen.« Jetzt lachte Amira.
Helle ließ sich hinters Lenkrad plumpsen, schickte ein stummes Stoßgebet an den Anlasser und drehte schließlich wagemutig den Zündschlüssel. Ihr Gebet wurde erhört, der Volvo räusperte sich und zeigte durch sonores Tuckern an, dass er bereit zum Start war.
»Warum das denn?«
»In dieser Dreckskarre fehlt der übervolle Aschenbecher.«
Helle warf Amira einen gutmütigen Seitenblick zu, legte den ersten Gang ein und freute sich. Sie hatte die junge Afghanin wirklich vermisst.
Auf der Fahrt nach Skagen tauschten sie ein bisschen Klatsch aus, und Helle erzählte von Amiras früheren Kollegen aus der Skagener Polizeistation – Marianne, Jan-Cristofer und natürlich Ole.
»Habt ihr immer noch keinen Nachfolger für mich gefunden?«, erkundigte sich Amira.
Helle schüttelte den Kopf. »Ingvar hat die Stelle einfach gestrichen. Er würde Skagen sowieso am liebsten dichtmachen. Und wenn es seine letzte Amtshandlung ist.«
»Das ist doch …« Amira musste den Satz nicht vollenden, sie war mit Helle einer Meinung, dass es höchste Zeit für den sturköpfigen Chef aus Fredrikshavn war, in Rente zu gehen. Sonst würde er noch mehr Unheil anrichten.
»Wenn Ingvar weg ist, beantrage ich die Stelle einfach noch mal, was soll’s.« Helle zuckte mit den Schultern. »Oder ich warte, bis du zurückkommst.« Sie traute sich nicht, zu Amira hinüberzuschauen, sie hatte Angst davor, sie würde den Kopf schütteln.
Aber die antwortete erst gar nicht. »Seit wann ist Leif weg?«, fragte sie.
»Vier Wochen.« Helle seufzte. »In den ersten Tagen hat er noch Fotos geschickt oder mal eine Sprachnachricht. Jetzt höre ich gar nichts mehr.« Sie lachte. »Aber dank Instagram weiß ich, dass es ihn noch gibt. Irgendwo da draußen.«
Leif war der Sohn von Helle Jespers, Polizeihauptkommissarin von Skagen, und ihrem Ehemann Bengt. Sie hatten noch eine ältere Tochter, Sina, die in Kopenhagen studierte. Hoffentlich noch studierte, Helle war sich da nicht immer so sicher. Leif dagegen hatte im Sommer tatsächlich sein Abitur bestanden, mit Hängen und Würgen, eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als würde es nicht klappen. Im Sommer hatte er im örtlichen Kvickly-Markt gejobbt und war Anfang Oktober mit seinem Freund David, einer vollen Mastercard und absolut keinem Plan nach Thailand geflogen. Auf Instagram konnte Helle den strahlenden Leif in Bangkok verfolgen, mit David vor einer Tempelanlage, weiße Strände – alles wirklich bestens, nur seine Eltern zu Hause im fernen Jütland schien der Junge vergessen zu haben.
Helle vermisste ihren Sohn. Das leere Zimmer, das leere Haus, nur Bengt und Helle. Und der alte Hund.
Sie war deprimiert.
Seit vier Wochen übernahm Helle häufig die Nachtschichten, machte Überstunden, auch wenn es gar nichts zu arbeiten gab. Aber sie scheute sich, nach Hause zu kommen. Sie hielt es nicht aus ohne ihre Kinder. Bengt versuchte, dafür Verständnis aufzubringen, vor allem weil Helle immer beteuerte, es läge nicht an ihm, dass sie so viel Zeit in der Wache verbrachte – und das stimmte! –, aber langsam war auch seine Geduld am Ende.
Da war Helle auf die Idee mit Amira verfallen.
Die junge Frau aus Afghanistan hatte im vergangenen Winter bei der Aufklärung eines Falles die Attacke eines Mörders nur knapp überlebt. Sören Gudmund, Leiter der Kopenhagener Mordkommission, hatte sich anschließend dafür eingesetzt, dass Amira nach ihrer Genesung und Therapie nach Kopenhagen kommen solle. Weg von Skagen, vom Ort des Geschehens. Und weg von der Arbeit auf der Straße, sie sollte eine Zeitlang im Innendienst arbeiten. Inga, die die IT-Abteilung der MK leitete, nahm Amira unter ihre Fittiche, und nach allem, was Helle berichtet wurde, lag Amira der Job. Sie war gut darin, mehr als gut, und es machte ihr Spaß.
Helle musterte die junge Frau auf dem Beifahrersitz verstohlen. Amira sah gut aus. Erwachsener. Sie war Anfang zwanzig, aber sie wirkte reifer. Vor allem im Vergleich zu Helles Tochter, die sich immer noch wie ein Hundewelpe benahm.
»Wie geht’s dir mit dem Stadtleben?«
Jetzt wandte Amira sich direkt Helle zu. »Es ist toll. Wirklich. Ich habe immer gedacht, ich kann auf das hier nicht verzichten. Die Dünen, der Strand, aber …«
Sie lächelte und sah wieder aus dem Fenster ins dunkle Nichts.
Helle fragt sich augenblicklich, ob es richtig war, Amira wieder hierherzuholen, wenn auch nur für kurze Zeit.
Sie hatte es sich so schön ausgemalt.