Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt

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Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt

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Mann stand auf, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

      »Finde ihn.«

      »Warum ich?«

      Jetzt drehte sich die Flamme um und lächelte. Sah ihm direkt in die Augen, in die Seele, in sein verwundetes Ich und lächelte.

      »Weil du schon damals ein besonders pflichtbewusster Soldat warst.«

      Damit ließ er ihn stehen. Drehte sich um und ging.

      Willem blieb auf der Bank an der Bushaltestelle sitzen, unfähig, sich zu bewegen.

      Die alte Angst war zurückgekommen. Eine zwanzig Jahre alte Angst. Mit niemandem konnte er darüber sprechen. Nicht einmal mit Marit, denn sie kannte den Willem DANACH. Sie wusste nichts von dem DAVOR.

      Er konnte es also nicht erzählen, aber dennoch wagte er es nicht, den Befehl zu ignorieren. Sehet nun, dass ich’s allein bin, und ist kein Gott neben mir! Ich kann töten und lebendig machen, ich kann schlagen und kann heilen, und niemand kann aus meiner Hand reißen. Er musste es tun. Diesen armen Jungen finden. Und dann?

      Willem blickte auf das Foto in seinen Händen. Es war ein Schnappschuss, vielleicht mit einer versteckten Kamera aufgenommen. Eine ziemlich grobe Vergrößerung. Vielleicht bei einer Session? Machten sie noch Sessions, dort, im Königreich?

      Es war jedenfalls kein normales Foto. Es war nicht, was es sein sollte: ein Partybild. Ein Bild, das diesen Jungen im Kreis seiner Freunde zeigte, wie sie tranken oder kifften oder Spaß hatten. Der junge Mann – vielleicht war er auch noch nicht einmal zwanzig Jahre alt, dachte Willem –, der junge Mann also hatte keinen fröhlichen Moment, als das Foto von ihm aufgenommen wurde. Er sah ertappt aus, gehetzt. Willem erkannte den Blick, und er konnte das Gefühl in sich abrufen. Genauso hatte er sich gefühlt, damals. Und seitdem nie wieder – bis jetzt. Er dachte, dass er entkommen war. Hatte sich in Sicherheit gewähnt; was für ein Fehler.

      Man hatte ihn gefunden. Die Flamme hatte ihm einen Auftrag erteilt. Und er, Willem, konnte sich nicht wehren. Wie es seine Art war, hatte er ihn im Unklaren gelassen. Warum der Junge gefunden werden sollte, wer er war und wo er vor seinem Verschwinden gewesen war. Wie er hieß und wer seine Familie oder Freunde waren. Willem wusste nichts. Er hatte nur das Bild. Das Bild eines verzweifelten Jungen mit einer frischen Narbe.

      Das Bild eines Jungen, wie er einer gewesen war.

      Deshalb hatte er ihn auserwählt.

      Denn das war es. Die Flamme erteilte keine beliebigen Aufträge. Die Flamme wählte aus. Und der Herr sah, dass es gut war.

      Willem drehte das Bild in seinen Händen. Eine Buchstaben-Zahlen-Kombination war darauf gekritzelt. Es sah aus wie ein Kennzeichen.

      Irgendetwas stimmte nicht. Wenn es darum ging, einen Abtrünnigen zu finden, hätte die Flamme seine eigenen Leute schicken können. Dahinter musste mehr stecken. Es gab keinen Grund, dass er ausgerechnet zu ihm kam. Er brauchte einen Profi, das war es. Die Flamme wusste, dass er mit seinen eigenen beschränkten Mitteln in der Sache nicht weiterkam. Es musste etwas Besonderes mit dem Jungen auf sich haben. Etwas, was selbst ihn vor Probleme stellte. Er brauchte jemand, der Zugang zu Methoden und Mitteln hatte, die ihm versagt waren.

      So einen wie ihn, Willem.

      Irgendwo in Dänemark

      Anfangs hatte sie starr neben ihm gesessen, hatte ausdrucklos durch die Windschutzscheibe gestarrt und kein Wort mit ihm geredet. Aber nun, wo sie ein paar Stunden und viele Kilometer weitergefahren waren, taute sie auf. Rutschte auf dem Beifahrersitz hin und her und stellte ihm Fragen. Was ist das? Ein Supermarkt. Und das? Ein Fast-Food-Restaurant. Wo fahren all die Menschen hin? Zur Arbeit. Besitzt jeder hier ein Auto? Sehr viele. Wo geht die Straße hin? In die Freiheit.

      Sie kannte nichts. Es war eigentlich unvorstellbar. Dass ein Mensch, der seit neunzehn Jahren mitten in Dänemark lebte, all das nicht kannte.

      Er war immerhin schon neun Jahre alt gewesen, als seine Eltern sich entschieden, nach Dänemark zu kommen. Ins Königreich.

      Neun Jahre und das Leben war vorüber.

      Er hatte Handys gekannt, Computerspiele, Playstation, Nintendo, er und sein Bruder hatten stundenlang bei den Nachbarskindern gesessen und Mario Kart gezockt. Und dann war von einem auf den anderen Tag alles vorbei. Er hasste seine Eltern dafür, und er hasste seinen Bruder, der ihn mit der Scheiße allein gelassen hatte. War einfach nicht mitgekommen, abgehauen. Und das Größte? Dass seine Eltern behaupteten, sein Bruder wäre tot. Einfach tot, weil er sich ihnen widersetzt hatte.

      Im Königreich hätte es dafür satte Strafen gegeben, und das hatte sein Bruder geahnt. Oder er hatte es gewusst und ihm nicht gesagt.

      Sein kluger Bruder. Es verging kein Tag, an dem er sich nicht fragte, was aus ihm geworden war. Er legte sich immer eine andere Geschichte zurecht. In einer war sein Bruder unter die Räder gekommen, klar. Vierzehn Jahre und ohne Eltern in Deutschland unterwegs? Das konnte nicht gut gehen. Auf der Straße leben, betteln, Crack rauchen, auf den Strich gehen, sterben.

      In einer anderen Version aber hatte sein Bruder großes Glück gehabt. Er war in ein Heim gekommen, einer der Erzieher hatte sich besonders um ihn gekümmert, ihn schließlich adoptiert, ihm eine Lehre vermittelt, jetzt lebte sein Bruder als Schreiner oder Dachdecker irgendwo mit seiner Freundin. Die vielleicht schwanger war.

      Oder aber er hatte sich auf der Straße durchgeschlagen, war ein gerissener Kleinkrimineller geworden, ein Boss war auf ihn aufmerksam geworden, hatte ihm kleinere Aufträge verschafft, dann hatte er sich hochgearbeitet, von Autos knacken über Drogen verticken und Mädchen für sich arbeiten lassen, zur rechten Hand vom Boss. Jetzt hatte er Kohle und dicke Autos und eine heiße Braut.

      Ein toller Bruder, Stoff für viele Geschichten.

      Ein schrecklicher Bruder, der einfach verschwand.

      Ihn zurückließ mit den Gebeten, den Schlägen, der Arbeit, den Spinnern, der Flamme.

      Andererseits: Wäre er nicht in der Hölle gelandet, hätte er sie niemals kennengelernt. Jemi.

      Absalom oder Niklas, wie er eigentlich hieß und wie es ab sofort auch wieder sein Name sein sollte, oder noch viel besser: Nick, sah zu ihr hinüber. Das Gesicht sah er nur angeschnitten, sie blickte aus dem Fenster. Die Knie hatte sie auf den Sitz gezogen, umschlang sie mit den Armen. Sie war wunderschön. Das Schönste, was er je gesehen hatte. Im Königreich war sie Schneewittchen gewesen, das junge Mädchen, das von allen diesen armen, verhärmten grauen Frauen um seine Schönheit beneidet wurde. Dabei war sie sich selbst ihrer Schönheit nicht bewusst. Eitelkeit war eine Sünde, und Jemi war gottesfürchtig erzogen. Sie sah nicht in den Spiegel, sie schminkte sich nicht – mit was auch? –, und sie konnte sich nicht vergleichen. Frauen in ihrem Alter gab es dort nicht. Es gab die Mütter und es gab die Kinder. Von den Kindern war das älteste fünfzehn. Von den Frauen die jüngste vielleicht Mitte, Ende zwanzig. Dazwischen hatte es nur sie beide gegeben: Absalom und Jemima. Die zwei Königskinder.

      Jetzt waren sie Nick und Jemi. Für immer.

      »Können wir anhalten?«

      Jemi sah ihn an. Königsaugen. Blau wie das Meer. Das Mittelmeer, wie er es aus Italien in Erinnerung hatte. Der einzige Urlaub, den er außerhalb Deutschlands gemacht hatte. Natürlich nicht mit seinen Eltern, sondern

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