Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt

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Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt

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biegen da vorne ab«, sagte er unvermittelt und zeigte auf den Kreisverkehr in der Verlängerung der Straße. »Ich setz dich da ab.«

      »Spinnst du?« Merle schüttelte den Kopf. »Das war nicht abgemacht, wir sind doch gerade erst losgefahren. Ich denke, ihr fahrt mindestens bis Frederikshavn?«

      »Davon habe ich nichts gesagt«, antwortete er schroff. »Ich habe gar nichts gesagt. Du hast dich selbst eingeladen.«

      Er blinkte und stoppte den Pick-up kurz vor dem Kreisverkehr.

      »Ich denk nicht dran.« Merle setzte sich wieder gerade hin und Jemi blickte ihn stirnrunzelnd an.

      »Nick, doch nicht hier. Lass uns wenigstens zu einer Tankstelle fahren«, sprang sie Merle zur Seite.

      »Ich steig hier nicht aus – in the middle of nowhere«, sagte Merle und verschränkte die Arme vor der Brust.

      »Und ich fahr dich nicht weiter. Raus jetzt.«

      »Mann, dein Freund hat vielleicht eine Scheißlaune«, sagte Merle. »Ich hab’s ja gleich gemerkt, dass du keinen Bock auf mich hast, aber mal ehrlich – Nächstenliebe? Never heard?«

      »Nick?« Jemi klang ängstlich.

      »Ja, ist okay«, gab er klein bei. Wegen Jemi. Nicht wegen der Trulla. Ein Stück noch. Aber er würde zusehen, dass sie die Nervensäge so schnell wie möglich loswurden.

      Gigarot, Südfrankreich

      »Du auch?« Bengt hielt die Flasche mit dem Pastis fragend über Helles Glas. Sie nickte. Langsam wurde es ein wenig kühl, selbst hier. Helle schob ihre nackten Füße unter Emil, der regungslos bei ihrem Stuhl lag. Er hatte ein Alter erreicht, in dem sie ständig überprüfte, ob er noch atmete oder vielleicht schon für immer eingeschlafen war.

      Als wenn der Tod so gnädig wäre.

      »Hast du gesehen?« Triumphierend hob sie ihr Smartphone in die Höhe, damit Bengt sehen konnte, was die Wetter-App anzeigte: Skagen, sieben Grad. Helle wischte. Saint-Tropez, achtzehn Grad.

      »Das ist unfair.« Bengts Augen blitzten, Helle sah die Lachfältchen in den Augenwinkeln. »Heute ist es hier besonders schön gewesen und zu Hause außergewöhnlich schlecht.«

      »Es kann in Skagen niemals, niemals so warm werden wie hier. Ende Oktober!«

      »Wenn wir so weitermachen, schon«, widersprach Bengt. »Irgendwann wird es hier heißer und immer heißer. Die Wälder werden brennen, sogar im Winter. In hundert Jahren willst du hier nicht mehr leben – wenn es uns dann noch gibt.«

      Helle legte den Kopf in den Nacken und trank den mit Wasser verdünnten Lakritzschnaps in einem Zug. Das Thema deprimierte sie. Nicht im Urlaub, dachte sie. Können Probleme nicht auch mal Urlaub machen? Und schob das leere Glas dicht an die Flasche Ricard. Aber Bengt schüttelte den Kopf.

      »Lass gut sein. Du bist schon wieder streitlustig.«

      Helle öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder ohne Entgegnung, sie erinnerte sich an ihre Therapeutin.

      »Du hast recht«, gab sie stattdessen zurück und kam sich verlogen vor. Engelszungen, das war nicht sie. Sie wollte trinken. Trinken und sich streiten, dass die Fetzen fliegen. Gläser auf den Boden schmeißen, sich anbrüllen, dass sie das Rote in ihren Augen sah, so lange, bis Bengt sie im Klammergriff ins Bett verfrachten und mit ihr schlafen würde. So sollte Urlaub sein! So sollte es sein, wenn man nicht als Kriminalkommissarin im kalten Jütland seinen Dienst tat. So war es gewesen, früher, vor den Kindern. In ihrem ersten gemeinsamen Urlaub, Bengt und Helle. Jung und wild. Damals waren sie mit Interrail durch Europa gefahren, Marokko war ihr Ziel, gekommen waren sie bis Saintes-Maries-de-la-Mer. Sechs ganze Wochen waren sie dort auf dem Campingplatz geblieben, Tage, die nach Wein und Salz, nach Haut und Meer schmeckten. Tempi passati.

      Jetzt saßen sie hier, in einer hübschen Ferienwohnung, die sie sich nur hatten leisten können, weil Nebensaison war, und plänkelten harmlos umeinander herum. Sprachen übers Wetter.

      Helle spürte den Blick ihres Mannes auf sich. Er hatte die Augen zusammengekniffen. »Du bist unfair«, sagte er.

      »Liest du meine Gedanken?«

      Er fasste an seinen roten Wikingerbart, durchzogen von ein paar weißen Haaren und strich darüber. Eine Beschwichtigungsgeste, so hatte ihre Tochter Sina es einmal genannt. Helle war es nie aufgefallen, Bengt selbst auch nicht. Aber es stimmte – jedes Mal wenn zwischen ihnen die Luft ein bisschen knisterte, streichelte Bengt seinen Bart.

      Jetzt nahm er ertappt die Hand von seinem Kinn. »Kannst du es nicht einfach genießen? Den Frieden, die Sonne.«

      Statt einer Antwort schob Helle ihre Hand über den Tisch, den ganzen Arm hinterher, bettete ihren Kopf darauf.

      »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, murmelte sie. »Scheißwechseljahre. Das hört nie auf.«

      Bengt nahm ihre Hand.

      »Du bist unzufrieden. Dir reicht dein Leben nicht. Meine Diagnose.«

      Helle schossen Tränen in die Augen, sie schloss die Lider. Er hatte recht. Sie liebte ihr Leben, aber seit ein paar Jahren wurde es weniger. Erst war ihre Tochter Sina aus dem Haus gegangen. Jetzt Leif. Emil war ein alter Hund, der sich bereit machte zu sterben. Auch ihre kleine Polizeistation schrumpfte. Amira war nach Kopenhagen gegangen. Jan-Cristofer arbeitete nur noch Teilzeit, um sich um seinen Sohn zu kümmern. Blieben sie und Ole, der sich ständig um Versetzung bemühte. Er wollte ebenfalls nach Kopenhagen, zu seiner Freundin Amira, und wer könnte es ihm verübeln? In Skagen hatten sie einem jungen ehrgeizigen Polizisten nichts zu bieten.

      Blieben Bengt und Helle, allein in einem ruhigen Leben. Zu ruhig, wenn es nach Helle ging. Sie bekam Beklemmungen, wenn sie abends nach Hause kam. In ihr wunderschönes Haus am Strand. Selbst gebaut, mitten in den Dünen, es konnte nicht idyllischer sein. Aber immer häufiger ertappte Helle sich dabei, dass sie sich noch nicht bereit fühlte für die Ruhe und den Frieden, der sie dort empfing. Es fehlte ihr an nichts. Mann, Hund, Freunde, Haus, Kollegen – es war perfekt. Sie würde eingehen.

      Konnte man an Harmonie sterben?, fragte Helle sich, mit dem Kopf auf ihrem Arm, ihre Hand in Bengts warmer Hand. Emils Fell an ihren Füßen, der Blick aufs Meer, ein Nebel von Pastis im Hirn.

      Die Reise war ihre Idee gewesen. Um der alten Zeiten willen. Weil es Emils letzte große Reise sein würde. Weil sie noch einmal die wilde Lust spüren wollte, die sie damals befallen hatte, als sie vor dreißig Jahren noch kinderlos in Südfrankreich gewesen waren. Sie hatte ausgeklammert, dass sie heute alt und dick waren. Wieder kinderlos zwar, aber jeder mit einem Päckchen auf dem Buckel. Bis in die Camargue hatte Helle dann auch nicht fahren wollen, nichts würde mehr so sein wie damals, und sie war zu der traurigen Erkenntnis gekommen, dass sie nicht mehr auf einen Campingplatz gehörten.

      Die Sonne schien und hinter ihrer Stirn stiegen schwarze Wolken auf.

      »Komm, lass uns den Sonnenuntergang am Meer ansehen.« Bengt stand auf und sofort hob Emil den Kopf. »Ja, mein Dicker, wir drehen noch eine Runde.«

      Als verstünde er jedes Wort, wuchtete sich der große Rüde mit Mühe auf die Hinterbeine. Helle vermied es, ihm dabei zuzusehen. Ihr Emil. Ihr über alles geliebter Emil würde gehen. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen.

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