Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt

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Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt

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hin rostete –, ließ sich nicht feststellen. Das Kennzeichen war ungültig und führte nirgendwohin.

      Warum aber hatte es jemand auf die Rückseite des Fotos gekritzelt? Oder handelte es sich bei den Buchstaben und Zahlen gar nicht um ein Kennzeichen? War es ein Code? Welchen Hinweis wollte Hiob ihm damit geben? Oder hatte nicht Hiob die Zeichen auf das Foto gemalt, sondern jemand anderes? Aber Hiob wäre das nicht entgangen, ihm entging niemals irgendetwas, er war die Flamme, der Prophet.

      Willem beschloss, diese Frage zunächst nicht zu beantworten, sondern sich um den Jungen Gedanken zu machen.

      Es gab ein paar Dinge, die seine Arbeitshypothese waren. Der Junge war Hiob bekannt, sonst würde er ihn nicht suchen lassen.

      Er war bei ihm im Königreich gewesen, das sagte ihm der Ausdruck des Jungen auf dem Foto und die frische Wunde auf seiner Wange, die mit Sicherheit von den Bestrafungen herrührte. Er kannte diese Wunden – heilige Zeichen, wie Hiob sie nannte.

      Nun war der Junge aber nicht mehr in Hiobs Gewalt, er war entkommen, und wahrscheinlich erst vor kurzem.

      Wenn es nur ein einfacher Flüchtiger wäre, dann wiederum würde Hiob nicht so einen Aufwand betreiben, ihn zu finden.

      Willem vermutete, dass der Junge etwas mitgenommen haben musste. Etwas, das Hiob gehörte. Etwas, das ihm gefährlich werden konnte.

      Etwas, das auch für Willem interessant sein könnte.

      Was war es? Aufzeichnungen? Briefe? Ein Laptop? Willem war sicher, dass Hiob so etwas besaß. Er war verlogen, predigte Wasser und trank Wein. Seine Anhänger durften nichts besitzen, alles war Gemeingut dort im Königreich, sie besaßen ja nicht einmal Privatsphäre oder durften einen Partner für sich beanspruchen. Alles wurde geteilt, sogar die Kinder hatten kein Recht auf Eltern, die sich nur um sie kümmerten. Alles gehört allen – nur Hiob gehörte immer schon etwas ganz allein.

      Und der Junge hatte einen Schatz.

      Das machte ihn wertvoll.

      Hiob nahm in Kauf, dass Willem das herausfand, das wiederum irritierte ihn. Er war Mittel zum Zweck – sobald Hiob hatte, was er wollte, würde er sich seiner entledigen, das erkannte Willem glasklar. Es genügte ein anonymer Brief. Er würde jede Menge Probleme bekommen.

      Willems Finger auf der Tastatur begannen zu zittern. Es war ein Spiel. Ein gemeines, perverses Spiel.

      Fand er den Jungen und lieferte ihn Hiob aus, war sein Schicksal – und wahrscheinlich auch das des Jungen – besiegelt.

      Fand er ihn nicht, würde Hiob ihn mit seinem heiligen Zorn bestrafen, was auf das gleiche Ergebnis hinauskam.

      Mit Sicherheit ließ Hiob ihn beobachten, und sobald er glaubte, dass Willem sein Ziel erreicht hatte, würde er zuschlagen.

      Willem dachte an den Jungen und die Narbe.

      Er dachte an sich und die Züchtigungen.

      Willem musste schneller sein. Er würde den Jungen retten und Hiob vernichten müssen.

      Es war ein Spiel um Leben und Tod. Es war Hiobs späte Rache an seinem Entkommen. Es war ein Fehdehandschuh, den der Prophet ihm hingeworfen hatte.

      Auge um Auge. Oder die Flamme würde ihn bei lebendigem Leib verbrennen.

      Aalborg

      Obwohl Helle vor ihrem Abflug in Nizza noch die Temperatur zu Hause gecheckt hatte, war sie nicht auf den scharfen Wind vorbereitet, der ihr mit kalten Klingen über das Gesicht fuhr, kaum dass sie den Terminal in Aalborg verlassen hatte. Sie zog den Reißverschluss ihres viel zu dünnen Parkas nach oben bis unters Kinn und nickte Jan-Cristofer zu, der an das Polizeiauto gelehnt auf sie wartete.

      »Hej«, sagte Helle und ließ sich von ihrem langjährigen Freund und Kollegen zur Begrüßung fest in den Arm nehmen.

      »Hej«, murmelte dieser in ihren Schal hinein und wollte sie nicht mehr loslassen.

      Helle vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und ließ die innige Umarmung gerne zu, es würde der vorerst letzte Moment sein, in dem sie Schwäche zeigen konnte. Sobald sie in das Auto stieg, war sie im Dienst. Und übernahm die Ermittlung im Todesfall Merle Brabant.

      Schließlich löste sich Jan-C von ihr und sah sie an.

      »Bengt kommt mit Emil nach?«

      »Mit dem Auto, ja. Sie sind heute mit mir von Nizza aufgebrochen. Ich rechne nicht vor Dienstag mit ihnen«, gab Helle zurück. Das bereitete ihr Unbehagen. Sie würde allein zu Hause sein. In dem schönsten Haus der Welt, aber allein. Um wie vieles lieber hätte sich Helle jetzt in einer Hütte ohne Wasser und Strom mit ihren Liebsten zusammengekuschelt, als in das große Holzhaus in den Dünen zu gehen, mit seiner Panoramascheibe, dem Blick auf Meer und Dünen, dem Kamin und der Sofalandschaft.

      Es würde kalt bleiben, nur mit ihr allein.

      Es würde so lange kalt bleiben, bis einer ihrer Lieblingsmenschen bei ihr sein könnte, Leif, ihr Sohn, der seinen schmalen Körper in einem übergroßen Hoodie verbergen und ihr aufmerksam mit den Augen durch den Raum folgen würde, bis sie Schulter an Schulter auf dem Sofa saßen und Serien guckten.

      Oder Bengt, dessen fester, runder Körper Wärme und Energie ausströmte, die bis in die letzten Ritzen reichten; der hinter seinem gigantischen Herd stehen und sie allein mit dem Geruch des von ihm gekochten Essens zu trösten vermochte.

      Oder Sina, ihre Tochter, mit ihrer vibrierenden Energie, der Unruhe im Körper, aber auch dem unstillbaren Bedürfnis nach Körperkontakt, die Helle fest an sich band, einspann in ihr Netz zärtlicher Verrücktheiten.

      Und natürlich Emil. Der Beste. Der, für dessen unbeirrbare Liebe es keine Worte gab, dessen feuchte dicke Nase Helles Herz erschüttern konnte, dessen Körper ihren Beschützerinstinkt ebenso erwachen ließ, wie er ihr Geborgenheit vermittelte.

      Familie. Helle brauchte sie jetzt mehr denn je, aber die Mitglieder der Familie Jespers waren im Moment weit voneinander entfernt.

      Jan-Cristofer knuffte sie sanft in die Schulter. »Du kannst zu uns ziehen für die paar Tage«, sagte er, offenbar ihre Gedanken lesend. »Ich kann dir ein superbequemes Sofa im Wohnzimmer anbieten.« Er ging um den Wagen herum zur Fahrerseite.

      Helle ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Danke. Wenn es ganz schlimm mit mir wird, nehme ich dein Angebot an.«

      »Wir haben immer Chips im Haus und eine Playstation 4.« Wir, das waren Jan-Cristofer und sein siebzehnjähriger Sohn Markus, der vor einem Jahr von seiner Mutter zu seinem Vater gezogen war. Seit Jan-C für ihn sorgen durfte, fiel es ihm noch leichter, keinen Alkohol mehr anzurühren.

      »Dann wäre ich optimal versorgt.« Helle lächelte. Zum ersten Mal, seit die Nachricht vom Tod des Mädchens sie erreicht hatte.

      Sie fuhren vom Flughafengelände, verließen das Stadtgebiet Aalborgs und steuerten nach Norden. Während Jan-C den Wagen durch die Weiten Jütlands lenkte, unter dem schweren Himmel, gebeutelt von den Herbststürmen, die über die Landzunge fegten, rekapitulierte er für Helle noch einmal den Stand der Ermittlungen. Zwar hatte sie Akten und Dossiers bereits auf ihrem Tablet studieren können, aber durch den Filter ihres Kollegen gewannen die dürren Fakten an Kontur.

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