Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt

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Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt

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auszuhalten für sie. Es gab Tage, da lief sie betäubt hinter ihm her, sah auf sein gemütlich wackelndes Hinterteil und dachte in ewiger Wiederholungsschleife: Du stirbst. Du stirbst! Wie oft drehte Emil ausgerechnet dann seinen großen Kopf zu ihr, und seine schwarzen Augen schienen zu sagen: »Na und? Ist nicht weiter schlimm.« Und dann schämte Helle sich. Für den Hund war es der natürliche Lauf des Lebens, Angst vor Tod und Verlust kannte er nicht. Warum ihn also mit ihrer Heulerei unnötig beunruhigen?

      Bengt und der Hund waren bereits die drei Stufen vom Ferienbungalow zur Straße gelaufen, aber Helle suchte noch nach ihrem Päckchen Tabak.

      Bengt drehte sich zu ihr um. »Ich habe dir ein Päckchen Gauloises besorgt«, rief er und lächelte. »Ohne Filter. Good old times.« Dabei kramte er in der Hosentasche seiner Bermuda, bevor er sich wieder umdrehte und bedächtig mit Emil an seiner Seite zum Strandweg zockelte.

      Helle hatte im vergangenen Herbst wieder angefangen zu rauchen, als die Tote in der Wanderdüne gefunden worden war. Vorgeblich, weil sie so gestresst gewesen war, tatsächlich aber hatte sie das Rauchen als Entspannungsritual für sich wiederentdeckt. Sie fand es gemütlich, im richtigen Moment mit einer Zigarette dazusitzen und an nichts zu denken als den perfekten Rauchkringel. Schwummerig wurde ihr aber noch immer davon, und es schmeckte auch nicht.

      Ein paar Sekunden verweilte sie auf der Terrasse und sah ihren Männern hinterher. Sie waren sich so ähnlich, fand sie, Bengt und Hund Emil. Unerschütterlich ließen die beiden Helles Launen über sich ergehen und hielten ihr unverbrüchlich die Treue. Hoffte sie zumindest. Würde Bengt sie betrügen können? Vermutlich war er dazu ebenso zu bequem wie sie. Emil dagegen hatte es versucht. Mehrfach. Jeder läufigen Hündin im Umkreis von fünf Kilometern war er hinterhergestürmt. Erfolglos. Und er war stets zu ihr zurückgekehrt.

      Ihr Handy zeigte den Eingang einer Nachricht an, aber Helle schaltete rasch auf Flugmodus und folgte schließlich den Herren zum Strand.

      Sie liefen ein paar Meter an der Wasserlinie entlang, durch Tang und Muscheln, Steine und zerdrücktes Plastik, bevor sie sich auf einen der Felsen setzten, der von der Sonne des Tages aufgewärmt war. Weitaus angenehmer als der kühle Sand.

      Bengt reichte ihr das Päckchen, sie zog eine Filterlose heraus und schnupperte daran. Ungeraucht rochen Zigaretten um einiges besser. Bengt gab ihr Feuer. Helle bewunderte ihn für seine Disziplin. Er leistete ihr alle paar Wochen mal Gesellschaft beim Rauchen, sie dagegen verspürte, kaum hatte sie dieses Laster wieder aufgenommen, jeden Tag mehrfach das Bedürfnis. Die ersten Züge saßen sie stumm da und beobachteten einen Kitesurfer draußen auf dem Meer, der geradewegs in den orangefarbenen Sonnenuntergang segelte.

      Bengt legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Schwer ließ Helle sich gegen ihn fallen.

      »War eine gute Idee von dir.«

      Helle nickte nur.

      »Ich wäre sonst vielleicht nie wieder hierhergekommen«, fuhr Bengt fort. »Südfrankreich.«

      Emil vergrub seine Schnauze im Sand und schnaubte tief. Dann scharrte er mit den Vorderbeinen, gab die Aktion aber schnell wieder auf. Die Arthrose.

      »Ich finde, du solltest dir Gedanken machen, wie es weitergeht.« Bengt warf einen Blick zu ihr hinüber.

      »Was, mit uns?« Helle bekam einen Schreck.

      »Quatsch. Was soll mit uns sein? Wir werden zusammen alt. Und lassen uns immer wieder mal therapieren.« Bengt lachte, dass sein Bauch wackelte.

      »Ja, ich weiß.« Natürlich war Helle vollkommen klar, wovon ihr Mann sprach. »Ich denke manchmal, es war ein Fehler, Frederikshavn nicht zu machen.«

      Nachdem sie den Fall im vergangenen Jahr aufgeklärt hatte, bot man ihr die Leitung der Polizeibehörde in Frederikshavn an. Ein mittelgroßes Kommissariat, mehr als fünfzig Mitarbeiter, deutlich bessere Ausstattung, große Fälle, mehr Verantwortung, mehr Aufgaben, mehr Arbeit und Herausforderungen. Aber Helle hatte gekniffen. Hatte sich eingeredet, dass sie sich in ihrer Ministation, dieser Dead-End-Police am Arsch der Welt, viel wohler fühlte. Mit ihrer Sekretärin Marianne, die nicht nur den weltbesten Kaffee kochte, sondern sich die Verantwortung für Helles Bauchfett zu gleichen Teilen mit Bengt teilte; mit Ole, dem forschen Jungspund, der immer noch zu jung war, um nichts zu tun, und Jan-Cristofer, dem alten Freund und Gefährten aus den Anfangstagen. Aber dann war ein ganzes Jahr lang so gut wie gar nichts vorgefallen. Ladendiebe und Falschparker – das hatte bereits Sören Gudmund, Leiter der Kopenhagener Mordkommission, so treffend auf den Punkt gebracht. Und im Sommer ein paar Betrunkene. Auffahrunfälle, das ein oder andere geknackte Auto, illegale Beachpartys – es war ein gähnend langweiliges Jahr für alle gewesen und hatte aufs Neue bestätigt, dass die kleine Polizeistation in Skagen eigentlich auf reinen Saisonbetrieb umgestellt werden konnte. Eine Helle war überbezahlt und überqualifiziert.

      »Na ja, Fehler, das würde ich so nicht sagen«, meinte Bengt beschwichtigend. »Sei nicht so hart zu dir. Du warst eben noch nicht so weit.«

      Und du bist viel zu gütig zu mir, lieber Bengt, dachte Helle. Du bist und bleibst Sozialpädagoge. Und ich weiß: Ich bin dein schwierigster Fall. Laut sagte sie: »Ich hab’s verkackt. Die Chance kommt so schnell nicht wieder.«

      »Weißt du«, sagte Bengt, als hätte er sie nicht gehört, »wenn Emil mal nicht mehr ist, könnten wir auch darüber nachdenken, nach Kopenhagen zu ziehen. Näher bei Sina sein.«

      »O Gott! Die wird sich bedanken!«

      »… ein schickes kleines Apartment in Nørrebro, du fährst mit dem Rad zur Arbeit ins Morddezernat, und abends gehen wir ins Kino. Oder ins Theater. Oder besuchen eine Ausstellung – meinst du nicht, das würde uns guttun?«

      Helle schwieg. Wie oft hatte sie an diese Möglichkeit schon gedacht. Sörens Ruf nach Kopenhagen zu folgen. Mordkommission! Das war schon was. Aber sie hatte gleichzeitig auch Angst vor so einem Neubeginn. Ihr würden nicht nur ihre lieb gewonnenen Kollegen, ihr würde vor allem das Meer, die Weite, der Strand, die Dünen und, ja, die Einsamkeit Skagens fehlen. Außerdem hatte sie Angst davor, in einer Gruppe von Profis nicht bestehen zu können. Sie würde die Entscheidung einfach weiter hinausschieben, das wusste sie. Sie war noch nicht so weit. Noch nicht unzufrieden genug. Stuck in the middle.

      Die Sonne war nun ganz an der Horizontlinie verschwunden, Helle fröstelte. Emil schlief schon wieder tief, aber sie weckten ihn auf und schlenderten Hand in Hand zu ihrem Apartment zurück. Bengt sprach noch ein bisschen über ein Leben in der Hauptstadt, sodass Helle der Verdacht beschlich, er wolle nicht ihretwegen den Lebensmittelpunkt verlagern, sondern weil ihm selbst die Decke auf den Kopf fiel.

      Während sie den Tisch deckten, mit Weißbrot, Salzbutter, einem Käseteller, der von selbst laufen konnte, Oliven, Tapenade, gegrillten Paprika, terrine de canard und eingelegten Zwiebeln, sprach Helle ihren Mann darauf an. Bengt gab zu, dass es ihn reizen würde, gleichzeitig war er an Jütland beruflich gebunden und außerdem war sein Vater Stefan noch in einem Heim in Frederikshavn, auch ihn wollte er nicht im Stich lassen.

      »Aber ich würde alles tun, damit wir beide nicht vor Langeweile sterben«, fügte er ernsthaft an.

      »Dann musst du ein paar Leute umbringen«, lachte Helle. »So hätte ich was zu tun.«

      »Dein Humor gefällt mir nicht«, meinte Bengt. »Du tickst manchmal nicht richtig.«

      Helle wollte dem etwas entgegnen, aber dann rappelte ihr Handy und zeigte eine Flut von Anrufen und Nachrichten an – sie hatte es gedankenverloren wieder aktiviert und

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