Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt
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Hier in Dänemark hatte das Meer eine andere Farbe. Grau, fast schwarz. Mit viel Wohlwollen war es bierflaschengrün. Schmutzig weißer Schaum obendrauf.
Er wusste das, weil er einmal mitkommen durfte. Sein Vater und ein anderer Jünger waren nach Helsingør geschickt worden, eine Familie abholen. Und er hatte sie begleiten dürfen. Als Lockvogel, das wusste er heute. Es war ihnen normalerweise streng untersagt, das Königreich zu verlassen. Aber die Familie hatte Söhne, jünger als er. Wenn er mitkam, war die Chance, dass sie ihren Eltern bereitwillig folgten, größer. Wenn die Söhne Vertrauen zu ihm fassten, dann würden sie keine Angst haben, in das Königreich zu ziehen. In die Wälder. Dorthin, wo die Zeit angehalten worden war.
»Abs… Nick? Können wir anhalten?«
Jemi legte ihre Hand auf seine, die auf der Gangschaltung ruhte, lässig, als hätte er nie etwas anderes gemacht, als Auto zu fahren. Dabei hatte er nicht einmal einen Führerschein. Er hatte das Fahren von den Männern auf der Farm gelernt, die Traktoren und Bulldozer, aber auch die Pick-ups und Hiobs alten Jeep hatte er fahren dürfen. Das Königreich war groß und weitläufig, sie hatten die Wälder bewirtschaftet und damit Geld verdient. Dazu mussten sie Maschinen bedienen können, gerade die Jungen und Kräftigen unter ihnen. Den Acker bestellten die Weiber mit dem Pflug.
Nick blinkte und fuhr bei der Tankstelle raus. Er hielt an einer der Zapfsäulen. Jemi sah ihn an.
»Und jetzt?«
»Ich tanke. Währenddessen kannst du aufs Klo.« Er zeigte ihr das kleine beleuchtete Schild an der Seite des Häuschens. »Wenn ich fertig bin, gehst du rein und zahlst.«
Jemi verzog das Gesicht. »Kannst du das nicht machen? Ich bin … zu unsicher. Das fällt bestimmt auf.«
»Das hier fällt auch auf.« Er zeigte auf die frische Narbe quer über seinem Gesicht. »Mehr als ein unsicheres Mädchen. Glaub mir.«
Sie nickte und glitt aus dem Wagen.
Nick – das war so viel besser als Niklas und schon gleich dreimal besser als beschissener Absalom – stieg ebenfalls aus. Er zog die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht, damit niemand auf den Überwachungskameras sein Gesicht sehen konnte. Er wusste, dass es so etwas gab. Natürlich noch immer geben musste und wahrscheinlich sehr viel ausgefuchster als zu seiner Zeit.
Zu seiner Zeit. So sagte er es, wenn er an sich zurückdachte. An sein Leben in Freiheit. In relativer Freiheit. Gemeinsam mit seinem Bruder Jan. Allerdings waren die Eltern schon immer streng gewesen, strenger als andere. Gläubiger. Sonst wären sie auch nicht in die Fänge Hiobs geraten. Aber sein Bruder, fünf Jahre älter, der hatte immer wieder Schlupflöcher gefunden. Hatte ihn mitgenommen zu seinen Beutezügen, Kaugummi klauen an der Tankstelle. Hubba Bubbas, die füllten den ganzen Mund aus. Das Wissen seines Bruders musste ihm jetzt auch weiterhelfen. Zwar hatte er Geld mitgenommen, Bargeld, aber weit würden sie damit nicht kommen. Den Pick-up hatten sie geklaut, aber Nick machte sich nichts vor: nicht hinter dem Wagen würden sie her sein.
Nervös sah er sich um. Die anderen Leute an der Tankstelle waren Normalos. Keine Auffälligkeiten, niemand, der sie vielleicht verfolgte. Eine vierköpfige Familie im Kombi, ein Geschäftsmann, eine Tramperin mit Surfboard.
Die Zapfsäule war ihm für einen kurzen Moment ein Rätsel, er hob die Zapfpistole ab, öffnete den Tankdeckel und wusste nicht weiter. Im Königreich hatten sie die Autos mit Kanistern befüllt, da schüttete man das Benzin in den Tank, fertig. Hier lief es anders. Er warf einen Blick auf den Familienvater an der Zapfsäule neben ihm. Der hatte die Augen fest auf die Anzeige geheftet und eine Hand an der Pistole. Es klickte. Dann klickte es noch mal. Der Familienvater schien noch nicht zufrieden, kniff die Augen zusammen, klickte, erst dann zog er die Zapfpistole aus dem Tank.
Nick begriff: Man musste den Hebel am Griff gedrückt halten. Ein bisschen dauerte es, aber dann hatte er den Dreh raus. Und machte es dem Mann nach: die Anzeige überprüfen und den Hebel drücken. Woher wusste man, dass der Tank voll war? 50 Liter gingen in den Pick-up, das wusste er, aber sie hatten immer so lange nachgeschüttet, bis das Benzin oben aus dem Loch gluckerte. Das würde man hier kaum so machen. Er stoppte bei 30 Litern, um sicherzugehen. Kein Aufsehen erregen. Mittlerweile kam auch Jemi von der Toilette zurück. Ihre Wangen waren gerötet.
»Es gibt keine Spülung und keinen normalen Wasserhahn«, flüsterte sie ihm zu. »Ich habe alles abgesucht, aber erst als ich aus dem Klo bin, hat es hinter mir gespült. Wie unheimlich.«
Er grinste. »Da hatte Hiob mal recht: Die Maschinen haben die Macht übernommen.« Es sollte ein Scherz sein, aber Jemi starrte ihn erschrocken an.
»Und wenn es stimmt? Wenn wir gar nicht klarkommen hier draußen?« Sie sah sich um. »Wenn es ein Fehler war?«
Er beendete den Tankvorgang und steckte ihr die Scheine zu. »Quatsch. Schau dich um, sehen die Leute geknechtet aus? Die sind doch alle ganz zufrieden. Das ist eben die Zukunft, Jemi. Ist doch cool, wenn du nicht mehr spülen musst.« Er lachte, aber Jemi knabberte an ihren Haarspitzen.
»Ich weiß nicht. Mir macht das Angst.«
»Jetzt geh rein und zahl. Sonst schauen die komisch, weil wir hier so lange rumstehen.«
Sie nickte und ging zurück zur Tankstelle, seine Blicke folgten ihr. Bestimmt war sie nervös, noch niemals war sie in einem Laden gewesen, hatte sich mit fremden Menschen unterhalten, geschweige denn irgendetwas bezahlt. Aber wenn sie sich komisch benahm, dann baute er darauf, dass es genug Menschen gab, die einen kleinen Dachschaden hatten und man wegen Jemi nicht gleich die Polizei holen würde. Er beobachtete, wie Jemi sich an der Kasse hinter die Tramperin stellte, die mit ihrem Board vor ihr stand. Die Tramperin bezahlte, mit Karte. Dann ging sie ein paar Schritte von der Kasse weg und Jemi war an der Reihe. Der Typ hinter der Kasse schien sie etwas zu fragen, sie schüttelte den Kopf und sah sich hilflos um.
»Komm schon, Jemi, du schaffst das«, presste Nick leise hervor. Jemi sah zu ihm hin, vermutlich konnte sie nicht viel erkennen, aber er nickte ihr zu.
Sie deutete schließlich zu ihm hinaus, der Typ nickte auch und nahm Jemis Geld.
Die Tramperin war ein paar Schritte von der Tür entfernt stehen geblieben und sah sich um.
»Verpiss dich«, dachte Nick. Sie schien allerdings auf seine Freundin zu warten, und als Jemi zum Ausgang strebte, sprach sie sie an.
Nick stöhnte. Verdammt, lass uns in Ruhe.
Aber die beiden jungen Frauen kamen Schulter an Schulter aus dem Kassenhäuschen und liefen gemeinsam auf den Pick-up zu.
»Hej«, sagte die Tramperin und grinste ihn an. »Ich bin Merle. Deine Freundin hier hat gesagt, ihr könnt mich ein Stück mitnehmen?« Und warf, ohne zu fragen, ihr Board hinten auf die Ladefläche.
»Hast du gesagt?« Er warf Jemi einen strafenden Blick zu, und sie schlug augenblicklich die Augen nieder. Verdammt, er wollte kein Arschloch sein, sie war seine Frau, er wollte sie mit Respekt behandeln, aber jetzt war er echt sauer. Sie konnten das Mädchen nicht mitnehmen. Sie waren auf der Flucht.
»Kein Platz mehr«, murmelte er, aber das Mädchen warf einen Blick auf die Beifahrerbank.
»Ach komm schon, wir rücken zusammen.«
Jemi nickte. »Das geht schon. Oder? Nick?«
Ein flehender Blick. Wenn sie bloß nicht immer so unterwürfig wäre,