Wie die Nummer 5 zum Halten kam. Uwe Trostmann

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Wie die Nummer 5 zum Halten kam - Uwe Trostmann

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Mutter redete auf Geheiß vom Vater nicht mit mir darüber, sie musste schweigen. Jahrzehnte später habe ich es versäumt, nachzufragen. Als mein Interesse wuchs, waren die Eltern schon zu alt, um erzählen zu können. Hätten sie gewollt?

      Manchmal bekam ich ein wenig davon mit, welche Schwierigkeiten sie als Flüchtlinge hatten, aber eher nebenbei. Weil die Wohnungsnot riesig war, wurden in der Nachkriegszeit Wohnungen und, falls nötig, auch einzelne Zimmer beschlagnahmt. Die Haus- und Wohnungsbesitzer waren gewiss nicht erfreut, und das schürte so manche Ressentiments. Meine Großeltern mütterlicherseits, Otto und Martha Bröker, die in Oberrotweil am Kaiserstuhl in der Nähe von Freiburg sesshaft wurden, bekamen das in den ersten Jahren tagtäglich zu spüren; sie hatten im Anbau eines Bauernhofs eine Zweizimmerwohnung zugewiesen bekommen. Ich erinnere mich, dass die vermietende Bäuerin auch zu uns unfreundlich war, und ab und zu fiel die eine oder andere Bemerkung über die Fremden. Dass die vom Geld der Einheimischen lebten und denen die Wohnungen wegnähmen – wenn ich so etwas heute, 60 Jahre später, höre, kommt mir das irgendwie bekannt vor.

      Meine Großmutter beherrschte die Küche. Sie war eine kleine, etwas rundliche Frau, ihre langen Haare trug sie stets zu einem Dutt geknotet und verließ nie ohne Kopftuch das Haus. Großmutter verlor sich beinahe in der großen und spartanisch eingerichteten Küche. Der Herd wurde mit Holz befeuert. In den ersten Jahren gab es keinen Kühlschrank; eine Kammer diente dazu, die Lebensmittel frisch zu halten. Ein Bad gab es nicht. Waren wir zu Besuch bei ihr, so hatten wir uns in der Küche gewaschen. Ich war oft bei den Großeltern. Dort befand ich mich außer Reichweite meines herrschsüchtigen Vaters. Das wöchentliche Bad erfolgte in einer Wanne, in die ich als kleiner Junge gut hineinpasste. Großmutter machte dazu große Mengen Wasser auf dem Herd warm. Wenn ich eine Zeit lang eingeweicht war, wurde der Schmutz der vergangenen Woche von mir abgeschrubbt. Großvater sah sich die Szene mit einem verschmitzten Lächeln an.

      Die Toilette war außerhalb der Wohnung. Ein überdachter Weg führte dort hin. Wasserspülung gab es erst Jahre später. Also musste man einen Eimer Wasser mitnehmen. Bibbernd lief ich als kleiner Junge ängstlich den Weg entlang, in einer den Eimer, in der anderen Hand eine Taschenlampe, denn weder draußen, noch auf jenem Örtchen gab es Licht. Im Winter, wenn alles eiskalt war, wurde im Flur abends ein Nachttopf bereitgestellt.

      Im Wohn-Esszimmer stand ein riesiger graugrüner Kachelofen, der von der Küche aus befeuert wurde. Die warme eingebaute Bank war der Lieblingsplatz von meiner Mutter und mir. Dunkle lange Holzdielen machten den Raum zusätzlich gemütlich. Ich liebte diese Wohnung. Für mich wurde sie zum Rückzugsort an manchen Wochenenden und in den Ferien.

      Meine Großeltern halfen unentgeltlich auf dem Hof, und offenbar verschaffte ihnen das etwas Respekt. Ich sehe noch heute Großvater: Ein kleiner, zufriedener Mann mit rundem Kopf ohne Haare, ein ehemaliger Dampflokführer, wie er mit seiner Schirmmütze und Strickjacke vor der Scheune sitzt und Maiskolben entblättert. Meistens sah ich ihn lachend oder spitzfindige Bemerkungen über andere Leute machen.

      Mit der Zeit durfte ich mich auf dem Hof frei bewegen und sogar mit dem Bauern aufs Feld fahren. Am Anfang hatte er noch Ochsengespanne, später einen Traktor. Neben dem Bauern auf dem Lanz zu sitzen oder oben auf dem heugefüllten Wagen schaukelnd die Welt an mir vorbeiziehen zu lassen, das war für mich das Größte. Wenn ich im Stall bei der Fütterung geholfen hatte, bekam ich das eine oder andere Mal ein Ei geschenkt. Triumphierend lief ich damit zu meiner Großmutter. Großmutter konnte sich für mich freuen. Meine Mutter war froh, wenn ich bei den Großeltern sein konnte, denn hier bekam ich gutes Essen. Meine Großmutter saß an der Quelle.

      Außerdem war sie eine gute Köchin, von deren Kenntnissen ich noch heute profitiere. Ich koche gerne und weiß gute Zutaten zu schätzen. Großmutter war ehrlich, genau und streng. Ich fühlte mich aber frei bei ihr. Ich spielte viel mit anderen Kindern auf der Straße oder war mit unserem Hund unterwegs. Selten machte sie mir Vorschriften. Sie verlangte aber von mir Pünktlichkeit und Ehrlichkeit. Die Kirchturmuhr zeigte mir die Zeit an. Hatte ich etwas kaputt gemacht, musste ich es gestehen. Eine Strafe gab es nicht, wenn ich etwas kaputtgemacht hatte, sondern dann, wenn ich es verschwiegen hatte.

      Großvater war zehn Jahre älter als Großmutter. In meiner Erinnerung saß er in späteren Jahren meistens am Fenster, rauchte ab und zu eine seiner Zigarren und hörte Radio. In den letzten Jahren hatte ihm Großmutter eines der ersten Batterieradios geschenkt. Großvater war inzwischen schwerhörig, und so hielt er sich das Radio ans Ohr. Großmutter wollte nicht, dass das Radio den ganzen Tag in voller Lautstärke lief. Wenn ich nach Oberrotweil kam, war es mit der Ruhe vorbei, was Großvater zu der Bemerkung veranlasste: „Wenn du wieder weg bist, mache ich drei Kreuze.“ Ich rannte gerne durch die Wohnung und machte mich oft lustig über ihn. Er nahm es mir nicht übel, aber Großmutter zog mich dann an den Ohren aus dem Zimmer. Gesprochen hat Großvater nur wenig. Solange er noch laufen konnte, verschwand er gelegentlich zu einem befreundeten Winzer und kam singend in der Nacht wieder nach Hause. Jeder, der ihn auf dem Heimweg getroffen hatte, konnte berichten, dass Großvater weiße Mäuse im Dorf gejagt hatte. Großmutter versank vor Scham. Er nahm die anschließende Predigt gelassen hin. Ich war elf Jahre alt, als er starb. Ich war traurig, freute mich aber, als ich sein Batterieradio bekam. Viel Freude hatte ich allerdings daran nicht. Für meinen Vater waren die Batterien viel zu teuer, und so stand das kleine Radio lange ungenutzt herum, bis es eines Tages verschwand.

      Bedingt durch Krieg und Vertreibung lebten nur wenige Mitglieder der weiteren Familie in Süddeutschland. Ab und zu kam der Bruder meiner Mutter aus Österreich zu Besuch. Onkel Kurt hatte noch im Krieg eine Österreicherin geheiratet und ließ sich nach Kriegsende in der Nähe von Wien nieder. Selbst bei diesen Treffen im Haus der Großeltern, erzählte kaum jemand irgendwelche Geschichten aus der alten Zeit. Ab und zu machte meine Mutter eine Bemerkung über die Flucht. Offenbar wollte die aber keiner hören, denn es ging niemand darauf ein. Das Erreichte wurde in den Vordergrund gestellt. Es näherten sich die Jahre des Wirtschaftswunders.

      Erst in ihrem achtzigsten Lebensjahr unternahm meine Mutter eine Reise in ihre Heimatstadt Stettin. Was erwartete sie? Sie war mit der falschen Hoffnung gekommen, ihre Heimatstadt im alten Zustand wiederzusehen. Aber das alte Stettin existierte längst nicht mehr. Sie selbst hatte berichtet, dass die Stadt schon kaputt war, als sie flohen. Menschen, die Stettin in der Zwischenzeit besucht hatten, hatten sie vor falschen Vorstellungen gewarnt. Sie kam enttäuscht und innerlich zerbrochen zurück.

      Immer wieder lese ich heute Bücher oder höre Geschichten von Ostpreußen, diesem „weiten Land“ voller Mysterien. Es ist eine Landschaft aus Wäldern, Seen und Meeresküste, mit besonderen Menschen, die dort lebten. Auf einer meiner Dienstreisen nach Allenstein sah ich einen winzigen, viel zu kleinen Ausschnitt davon. In einem Januar fuhr ich von Warschau aus mit dem Zug und klebte am Fenster wie ein kleiner Junge. Der Anblick der Landschaft ließ die wenigen Erzählungen wieder aufleben. In der Poliklinik von Allenstein sprach mich eine Krankenschwester an, auf ostpreußisch. Bevor wir richtig ins Gespräch kamen, erschien der Professor, und sie verschwand in einem der zahlreichen Gänge des Krankenhauses. Warum habe ich die Gegend nie selbst erkundet?

      Erst spät wurde mir die Geschichte der Flüchtlinge klar. Durch Film und Fernsehen und über die Familie meiner Lebenspartnerin bekam ich mehr Verständnis für das, was damals passierte. In der Schule wurde dieses Thema zu meiner Zeit nicht angesprochen. Behandelt wurde in Geschichte und Politik der Zweite Weltkrieg. Die Deutschen hatten ihn begonnen, und zur Strafe hatten sie Teile ihres Landes abgeben müssen. Thema war natürlich auch die Schreckensherrschaft des Hitlerregimes. Aber nie zur Sprache kam, wie viele Menschen im Zuge dieses Krieges ihre Heimat verloren hatten: Deutsche, Russen, Polen.

      Und wir als Kinder? Schon auf dem Spielplatz gab es Kinder von Eltern aus Freiburg, Ostpreußen, Pommern oder Schlesien. Keiner von uns fragte danach. Das war uns egal – wir haben das gar nicht weiter bemerkt. Wir spielten, lachten, machten unsere Streiche miteinander. Nur manchmal fiel mir auf, dass manche Eltern den einen oder anderen Dialekt sprachen. Die Flüchtlingskinder sprachen hochdeutsch, die Kinder der Einheimischen

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