Boccaccio reloaded. Centino Scrittori
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Sonntag. Kontaktverbot. Nach der Schließung der Grenzen und dem Reiseverbot musste das der nächste Schritt sein. Das ist quasi eine Ausgangssperre unter verdecktem Namen. Und daran sind Leute wie dieser Freund meines Bruders Schuld. Meine Eltern wechseln ins Home-Office.
Eine neue Vorschrift der Regierung. Wie immer: zur Eindämmung des Virus.
„Ab hier ist alles ausgedacht und hoffentlich wird es nie so weit kommen, aber ich würde trotzdem gerne noch weitererzählen“, warnt das Mädchen uns und als von allen Seiten Zustimmung kommt, erzählt sie weiter.
April 2020
Freitag. Die letzten zwei Wochen zogen wie ein Alptraum an mir vorbei. Fast in der gesamten EU wurde eine Ausgangssperre verhängt. Überall sind die Krankenhäuser überfüllt. Meinen Opa hat es auch erwischt. Er liegt auf der provisorischen „Intensivstation“ auf dem Messegelände. Ich unterdrücke die Tränen. Das alles ist so surreal. Ich kann nicht glauben, dass das echt passiert.
Sonntag. Die ganze Welt befindet sich im Ausnahmezustand. Hierzulande horten die Leute Toilettenpapier, in Schottland Whiskey, in Frankreich Rotwein und Käse. Vernünftig, so kann man seine Sorgen in Alkohol ertränken. In den USA kaufen alle vorsorglich Waffen. Unterbewusst prophezeie ich den USA einen Bürgerkrieg. Ich habe da ein ganz mieses Gefühl bei der Sache.
Mittwoch. Die Nachrichten kennen kein anderes Thema als die Pandemie mehr. Mein Opa ist gestern verstorben. Ich kann nicht mehr. Tränen fließen über mein Gesicht. Es soll endlich aufhören! Die Wirtschaft steht vor dem Abgrund, sogar die Lebensmittel könnten knapp werden, weil keine Erntehelfer da sind. Die Schulden dürften ins Unermessliche steigen, da diese Krise allen zu schaffen macht. Ich wollte mir die Zahlen nicht so genau anhören, aber es sind jetzt schon mehr als 1.000.000 Tote weltweit. Hier sind es schon weit über 20.000 und es werden ständig mehr.
Juni 2020
Obwohl draußen ein lauer Sommerwind weht, fühlt es sich nicht nach Sommer an. Die Temperaturen um die 24°C dringen nicht zu mir durch. Mir ist kalt. Forscher haben auf eine Besserung bei wärmerem Wetter gehofft, doch diese kam nicht. Stattdessen scheinen die Menschen verrückt geworden zu sein. Der Schulbetrieb wurde für zwei Wochen aufgenommen und sofort wieder fallengelassen. Manche Schüler werden als Sargträger eingesetzt. Jeder bemerkt es, der Staat geht langsam pleite. Man weiß nicht, wohin mit all den Leichen. Mein Bruder wurde vom Militär eingezogen, er patrouilliert durch die Straßen, denn die Soldaten sollen für Sicherheit sorgen. In den USA ist bereits der Bürgerkrieg ausgebrochen. Alle Menschen sind verzweifelt, hier befürchten viele dasselbe. Die Lebensmittel sind auf dem Feld verdorben, weil niemand sie ernten konnte. Niemals hätte ich gedacht, dass ich erfahre, wie es sich anfühlt zu hungern. Ich umklammere das Telefon. „Meinst du, sie werden noch ein Heilmittel finden?“ „Ich hoffe es. Hey, vielleicht sollten wir beide anfangen zu forschen, was meinst du?“ Ich schmunzle und sehe aus dem Fenster. Die Straßen sind leer, die Stadt sieht wie ausgestorben aus. Dann muss ich husten. Corona positiv. Aber ich werde es sicher überleben. Mit einer Sache hatte der Mann Recht: Das Virus nimmt uns alle ein.
(Tamara.-U. Lorenz)
Zweite Geschichte
Wir sind alle wegen der letzten Geschichte noch ziemlich in unseren Gedanken versunken, als die ältere Dame von gestern sagt: „Ach Mensch, hoffen wir, dass das alles nicht so weit kommen wird. “ Das hoffen wir natürlich alle. Ein alter Herr meldet sich nun zu Wort, um uns seine Geschichte „Jene Jahre des Krieges“ zu erzählen. Wir hören alle gespannt zu und er fängt an.
Immer wieder bin ich verblüfft, wie normal unser Leben heute scheint. Eigentlich waren ich oder meine Familie nie von besonderen Zuständen oder tragischen Schicksalen betroffen. Meine Geschwister, Eltern und ich hatten zwar den Krieg erlebt, doch war das in dem Sinne nichts Besonderes. Nichtsdestotrotz waren meine Enkel immer wieder an meiner Jugend interessiert. Für sie waren die Zustände, unter denen ich damals lebte, nur schwer vorstellbar. Sie wollten wissen, wie ich damals gedacht und gefühlt hatte. Ich begann also, mich mit meinen frühen Jahren auseinanderzusetzten. Vor allem erinnerte ich mich daran, dass ich oft auf der Suche gewesen war nach Antworten auf zahlreiche Fragen, die mich nicht losließen.
Früh fing es an, als ich noch ein kleines Kind war. Nächtelang weinte ich, weil mir klar wurde, dass wir alle eines Tages sterben werden. Ich war vollkommen ratlos. Unvorstellbar war mir die Unendlichkeit. Was hatte ich, was hatte meine Seele all die Jahrmillionen von Jahren, ja die Unendlichkeit, die bereits vor meiner Geburt verstrichen war, gemacht? Nichts, einfach nichts. Und der Gedanke, dass das Gleiche mir noch einmal bevorstehen würde, doch dass ich diesmal aus dem Nichts nicht erwachen würde, ließ mir mein komplettes irdisches Dasein und jenes meiner Mitmenschen komplett nichtig erscheinen. Nachts, völlig aufgelöst, kam ich zu meinem Vater, der träumend in der Badewanne saß. Ich wusste nicht, was ich schlimmer finden sollte: Dass ich eines Tages sterben sollte oder dass ich eines Tages meine Mutter, meinen Vater oder meinen Bruder verlieren sollte? Ich erzählte ihm also von meinem Kummer und er sagte mir, dass wir nicht zu sehr über unsere Vergänglichkeit trauern, sondern das, was wir haben, unser Leben, in vollen Zügen genießen sollten. Sich den Kopf zu zerbrechen, gar traurig zu sein, bringe doch überhaupt nichts.
Wie Sie sich sicher vorstellen können, fand ich diese Antwort damals höchst unzufriedenstellend. Es wäre eine Lüge zu sagen, dass das heute wirklich anders ist, aber irgendwann erkannte ich, dass die Antwort meines Vaters die beste zur Verfügung stehende war.
Als ich dann erwachsen wurde, kam der Krieg. Es war eine Zeit, in der mich viele Fragen heimsuchten. Die Stimmung war zunächst gut und ich war beeindruckt von all dem Tamtam der Großstadt. Ich weiß noch, wie ich damals, ich war noch vor Kriegsbeginn nach Berlin gezogen, von den Nachbarn eingeladen wurde. Es war der Abend des 14. Juni 1940 – die Besetzung von Paris. Ich sah keinen Grund zu feiern, dass eine weitere Stadt in die Hände eines Verrückten gelangt war, und da ich dieser Meinung war und die meisten meiner Mitbewohner überzeugte Parteimitglieder waren, mied ich den Kontakt zu ihnen. Sie waren jene Art Menschen, die nie gesucht hatten. Als Hitler kam und sagte, die Juden seien an allem schuld, da glaubten sie ihm. Gefragt, gesucht wurde da nicht viel.
Nun, wenn man Menschen scheut, die nicht suchen, sondern folgen, dann ist man meist recht einsam und so war es vor allem in jenen Jahren, als Deutschland der Welt zeigte, dass es auch im Diesseits eine Hölle geben kann.
Ich erinnere mich noch an jenen fahlen Greis, der zu dieser Zeit im Dachgeschoss wohnte. Ein blasser alter Mann. Er hatte im Ersten Weltkrieg gedient, wurde in der Schlacht von Verdun verwundet und verlor den rechten Arm. Als er heimgeschickt wurde, schied sich seine Frau von ihm und heiratete seinen Bruder. Ich wusste nicht, ob ich Mitleid mit ihm haben sollte. Er hatte verloren, was er gefunden hatte. Bald verlor er dann auch seinen Job und begann zu trinken. Ich war stets beeindruckt, wenn er jeden Montagmittag seine Flaschen heruntertrug, den Nachschub besorgte, und ich fragte mich dann, ob dort oben noch drei seiner Freunde wohnten.
Die Wohnung, in die ich 1937 einzog, gehörte einst einer jüdischen Familie, die um diese Zeit ihr gesamtes Vermögen verlor und später nach Litzmannstadt deportiert wurde. Als ich den Hausverwalter das erste Mal traf, ich glaube, es war die Schlüsselübergabe, begrüßte er mich mit einem scharfen: „Heil Hitler!“ Er war klein und etwas dick und versicherte mir, wie froh er sei, endlich dieses „Dreckspack“ losgeworden zu sein. Es freue ihn, so sagte er, eine „reinblütige Arierin“ als zukünftige Mieterin zu haben. Ich glaube sogar, es war ein Montagmittag. Dies würde zumindest erklären, warum ich auch den fahlen Greis dort zum ersten Mal sah. Ich glaube, er bemerkte meine