Boccaccio reloaded. Centino Scrittori
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Irgendwann wollten meine Enkel dann auch wissen, was denn mit den Juden gewesen sei. Ich erinnerte mich an die 50iger, als der Holocaust zum ersten Mal in der Öffentlichkeit thematisiert wurde. Ich las damals von dem Film „Nacht und Nebel“ in einer Sonntagszeitung. Die Bilder sahen schlimm aus. Ich hatte viel gesehen, besonders in den letzten Monaten des Krieges, doch das war etwas Anderes. Das kannte ich nicht, war nicht Teil meines Lebens gewesen. Ja, ich hatte in der Wohnung einer jüdischen Familie gelebt, ja, auch ich hatte bemerkt, wie die Juden Stück für Stück aus der Stadt verschwanden, doch ich war nicht daran beteiligt gewesen. Immer war ich der Partei gegenüber kritisch gewesen, hatte sie gar verachtet – wenn auch nur im Geheimen. Mich ärgerte es, dass alle so argumentierten wie ich. Der Hausverwalter, der SS-Mann, der Wehrmachtssoldat, alle sagten sie, sie hätten damit eigentlich nichts zu tun gehabt. Ich ahnte, dass auch hier ein tiefliegender Selbstschutzmechanismus mich davor bewahrte, etwas Unaussprechbares auszusprechen.
(Paul Oswalt)
Dritte Geschichte
Die nächste Geschichte kommt von einem eher unauffällig gekleideten, ca. zehn jährigen Jungen, der mit seiner Mutter da ist. Er erklärt kurz, dass diese Geschichte zum Glück erfunden ist und meint, wenn er die Geschichte betiteln müsste, würde sie „das Ende des Amstelvirus“ heißen.
Es ist das Jahr 3001, es herrschte lange Ausnahmezustand. Die ganze Welt kämpfte vier Jahre lang mit einem Virus, dem Amstelvirus. Die Symptome sind Fieber, trockener Husten, Atemprobleme, Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Schüttelfrost, Übelkeit und eine verstopfte Nase. Es endet immer tödlich. Die Welt hatte schon sehr viele Menschen verloren, denn es gab dramatischerweise keinen Impfstoff.
Viele hofften auf einen Impfstoff. Auch Benjamin, ein kleiner, zehnjähriger Junge. Deswegen forschte er mit seinem Opa Hans nach einem Impfstoff. Sein Opa war ein 86-jähriger Wissenschaftler, der eigentlich auf Meeresbiologie spezialisiert war. Nach über einem Jahr Tüfteln war sich Hans sicher, ein Gegenmittel, das tatsächlich funktioniert, entwickelt zu haben. Vor lauter Freude rief er Benjamin und rannte die Treppe seines Hauses herunter. Er fiel hin und schlug sich den Kopf an seinem Schuhregal auf. Benjamin rief sofort die Polizei und seine Eltern an und steckte den Impfstoff in seine Strickjacke. Durch das Virus war das Gesundheitssystem überlastet. Der Krankenwagen kam zu spät, Hans war bereits verblutet. Kurz nach dem Krankenwagen trafen Benjamins Eltern ein. Sie nahmen den weinenden Benjamin mit nach Hause.
Am nächsten Tag probierte Benjamin seinen Eltern zu erklären, was passiert war und dass sein Opa einen Impfstoff entwickelt hatte, doch seine Eltern stempelten Hans als einen verrückten Wissenschaftler ab. Sie sagten, dass sie verstehen, dass er traurig und es schrecklich sei, dass er seinen Tod hautnah miterleben musste. Damit er sich ausruhen konnte, schickten sie ihn auf sein Zimmer. Benjamin liebte seinen Opa sehr, für ihn war er der coolste Mensch auf der Welt. Er glaubte fest daran, dass der Impfstoff wirklich funktionierte. Die nächsten Tage verbrachte er damit, seine Eltern zu überzeugen, den Impfstoff an die Kollegen von Hans zu schicken, doch die Eltern dachten, sie würden sich und Hans vor den Kollegen lächerlich machen. Benjamin fing an zu überlegen, wie er den Impfstoff an die Öffentlichkeit bringen konnte. Ihm ist durchaus bewusst gewesen, dass einem Zehnjährigen nicht so leicht Glauben geschenkt wird. Wenn nicht einmal seine Eltern ihm glaubten, wer würde ihm dann glauben? Die Frage stellte sich Benjamin auch und weil ihm zunächst niemand einfiel, wurde er schnell entmutigt und gab auf. Es ließ ihm nachts aber keine Ruhe, weil er sich überlegte, dass viele Menschen täglich starben, obwohl er einen wirksamen Impfstoff besaß.
Er befragte seine Eltern nach den Freunden von Hans, weil er glaubte, dass diese ihm glauben würden. Seine Eltern erwähnten Volker. Benjamin kannte ihn bereits, weil er immer auf den Geburtstagspartys von Hans war. Er wusste, dass er ebenfalls Wissenschaftler war. Benjamin probierte ihn zu kontaktieren. Da er noch kein Handy hatte, probierte er mit dem Laptop seiner Mutter eine E-Mail zu schreiben. Der Laptop war aber mit einem Passwort gesichert. Benjamin beschloss, zu seinem Opa zu laufen um in seinem Adressbuch nach der Adresse von Volker zu suchen. Er packte einen kleinen Rucksack mit Klamotten, dem Impfstoff und dem Schlüssel von Hans Haus. Danach verließ leise die Wohnung. Seine Eltern hatten nichts mitbekommen. Den Weg zu seinem Opa kannte er bereits, denn sein Opa hatte ihn oft zu Fuß nach Hause gebracht. Er wusste nicht, wo er das Adressbuch suchen sollte. Er begann im Wohnzimmer, weil sein Opa dort den meisten Krempel hingelegt hatte. Er suchte gefühlt über eine Stunde, obwohl es bestimmt nur zehn Minuten waren, doch das Buch war nirgendwo zu finden. Er ging die Treppe hoch und suchte an seinem Lieblingsort weiter, dem Labor. Sein Opa hatte ihm immer verboten, in diesem Raum seine Sachen zu erkunden, deswegen fühlte er sich schlecht, den Raum zu durchforsten.
Er fand das Adressbuch in einer Schreibtischschublade unter einem Stapel Papier. Er suchte nach Volkers Adresse. Er hatte Glück, denn Hans hatte sein Buch nicht sauber geführt, nur wenige Adressen hatte er sich aufgeschrieben. Volkers Adresse war auf einem Klebezettel hinten im Buch notiert. Benjamin nahm sich den Zettel, plünderte den Süßigkeitenschrank in der Küche und verließ das Haus. Mit reichlich Proviant machte er sich auf den Weg zur S-Bahn.
Benjamin wohnte in Wilmersdorf und musste alleine nach Friedrichshagen. Er wollte am Bahnsteig nach dem Weg fragen und mit der Bahn fahren, doch die Bahnen fuhren schon lange nicht mehr, denn es herrschte eine Ausgangssperre. Die Menschen durften nur noch zum Einkaufen nach draußen. Benjamin beschloss zu laufen und sobald er in Friedrichshagen wäre, würde er einfach nach der Schöneicher Straße fragen, in der Volker wohnte. Er begann zu laufen. Nach etwa 30 Minuten Fußweg dachte er, er wäre in Friedrichshagen. Er lief zu einem Einkaufsladen, denn nur da konnte er sich sicher sein, auf jemanden zu treffen. Er versuchte ein paar Menschen anzusprechen, aber die wollten Abstand halten und liefen weiter. Bis er schließlich eine Frau ansprach, die ihm zuhörte. Die Frau hieß Hannelore, aber Benjamin sollte sie Hanne nennen. Als Benjamin sie fragte, ob er in Friedrichshagen sei, erläuterte sie, dass Friedrichshagen weit entfernt sei, wenn er zu Fuß laufe. Denn Benjamin befand sich mitten in Schöneberg. Hanne wollte die Eltern anrufen, doch Benjamin erklärte, warum er alleine unterwegs war. Hanne dachte sich, wenn es auch nur eine winzige Wahrscheinlichkeit gibt, dass der Impfstoff wirksam gegen das Virus ist, ist es das wert, ihn auf seine Wirksamkeit testen zu lassen. Sie beschloss Benjamin zu helfen und bot ihm an, ihn mit zu sich zu nehmen. Benjamin sah keine Chance mehr, alleine zu Volker zu kommen und willigte ein, mit Hanne zu gehen.
Hanne machte für sie Abendbrot und versprach, Benjamin morgen nach Friedrichshagen zu fahren. Benjamin durfte auf ihrer Wohnzimmercouch schlafen. Er war sehr dankbar, Hanne getroffen zu haben, denn es hätte auch anders für ihn laufen können. Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, brachen sie auf. Sie fuhren mit dem alten Auto von Hanne zu Volker. Die Fahrt dauerte 35 Minuten, in denen sich die beiden besser kennenlernen konnten. Benjamin mochte Hanne sehr, sie erinnerte ihn an seinen Opa, denn sie hatte dieselbe Spontanität und energiegeladene Art wie er.
Als sie angekommen waren, klingelten sie an der Haustür. Volker sprach über die Gegensprechanlage zu ihnen. Er teilte ihnen mit, dass sie leider nicht reinkommen durften, weil er das Virus habe. Benjamin wollte nicht aufgeben. Er legte den Impfstoff vor die Tür. Hanne und Benjamin setzten sich ins Auto und Volker nahm den Impfstoff an sich. Er nahm ihn mit in seine Wohnung und machte ein paar Tests und die Ergebnisse sandte er an einen Virologen.
Benjamin klingelte nochmals an der Tür und Volker sprach wieder über die Gegensprechanlage zu ihm. Volker sagte ihm, dass der Impfstoff mit ein paar Änderungen erstaunlicherweise funktionieren würde, dass das aber noch eine Weile dauern werde. Benjamin stieg total stolz auf seine und Hans’ Arbeit zurück zu Hannelore ins Auto. Hanne fuhr ihn nach Hause, wo er schrecklichen Ärger von seinen Eltern bekam. Sie waren aber in erster Linie froh, ihn wieder