Boccaccio reloaded. Centino Scrittori
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Bettina stand der Mund offen und auch ich war geschockt über diese Dreistigkeit. Nur Peter war immer noch ziemlich ruhig und lächelte sogar etwas triumphierend, während er sagte: „Tja, das hast du jetzt davon. So, jetzt leg bitte die anderen überflüssigen vier Packungen weg, wir brauchen noch Eier.“ Bettina stand immer noch der Mund offen und sie sah ein bisschen aus wie ein Karpfen, als sie jetzt nach Worten rang und immer wieder den Mund auf und zu klappte. Am Ende entschied sie sich offensichtlich fürs Schweigen, klappte den Mund endgültig zu, legte das Klopapier wieder ins Regal und folgte ihrem Mann, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Ich sah wahrscheinlich nicht viel weniger aus wie ein Fisch auf dem Trockenen, klappte ebenfalls den Mund zu und machte statt meiner traurigen Playlist jetzt Heavy Metall an, nachdem ich mir die Kopfhörer wieder in die Ohren gesteckt hatte.
In meinem Korb lagen nun ausreichend Chips, Schokolade und Gummibärchen für die nächsten Tage und außerdem die vergessene Milchflasche, wegen der mich meine Mutter überhaupt erst zum Supermarkt geschickt hatte. Böser Fehler, ihr diesen Gefallen zu tun. Nicht zu viel, um auszusehen als würde ich hamstern, aber auch nicht zu wenig, damit ich nicht am nächsten Tag schon wieder losrennen musste. Dank der ziemlich aggressiven Musik in meinen Ohren hörte ich nicht, warum genau sich die beiden Frauen vor mir an der Kasse stritten, aber ich schätzte Mal, es ging um zu viel oder zu wenig Abstand, und selbst die Frau hinter mir, die eine ganze Palette Mehl aufs Kassenband legte, konnte mich nicht mehr schocken. Das gesamte Dorf befand sich im Ausnahmezustand: Die eine Hälfte drehte komplett durch und die andere Hälfte wurde wahnsinnig, weil sie dauernd mit durchdrehenden Menschen konfrontiert wurden. Was für ein Einkauf. Was für ein Tag. Was für eine Situation.
Ich entschied mich, noch nicht direkt nach Hause zu gehen, denn auf Grund dessen, dass meine Familie und ich bereits seit sieben Tagen alle aufeinander hockten, konnte ich mir in meinem momentanen Zustand nicht auch noch meine nervigen kleinen Brüder antun, die den gesamten Tag mit Laserschwertern kämpften und rumschrien. Ich hatte sie allerdings selten so laut schreien hören, wie als meine Mutter verkündet hatte, dass wir die nächsten Wochen niemanden treffen durften. Und die beiden schreien viel, oft und sehr laut. Aber ich konnte sie ausnahmsweise mal verstehen, denn nach dieser Nachricht war mir auch zum Schreien zumute gewesen, denn nicht einmal ich konnte mich dem widersetzen, obwohl ich bereits 19 war. Aber dieses Verbot gilt wohl momentan für jede Altersgruppe.
Als ich so gedankenverloren durch die Straßen des Dorfes ging und regelmäßig entgegenkommenden Spaziergängern auswich, damit der Abstand von zwei Metern eingehalten wurde, kam ich am örtlichen Krankenhaus vorbei und wollte fast vor Freude in die Luft springen, als ich den roten Lockenschopf meiner besten Freundin zwischen den ganzen Pflegern und Pflegerinnen erkannte, die offensichtlich gerade mal fünf Minuten Pause hatten. Ich überlegte kurz zu ihr zu gehen und sie einfach zu überraschen, entscheid mich aber dafür, sie zu rufen, man wusste immerhin nie, wie nah Krankenschwestern an andere Leute als die Patienten herandurften und ich wollte ihr auf keinen Fall Ärger machen, denn sie war ja noch in der Ausbildung.
„Mia! Hey, hier bin ich“, rief ich und glücklicherweise hatte sie mich schon gesehen und kam zu mir. Sie blieb zwei Meter vor mir stehen und strahlte mich an. „Hey, was machst du denn hier, ich dachte, du steckst zuhause in selbst verordneter Quarantäne mit deiner Familie fest“, sagte sie und ich erwiderte zerknirscht: „ Ja, tue ich auch, aber ich sollte Einkaufen gehen und nachdem die sich im Supermarkt alle die Köpfe eingeschlagen haben, brauchte ich kurz frische Luft und ein bisschen Ruhe von den zwei Quälgeistern!“ „Ach komm, so schlimm sind deine Brüder doch gar nicht. Ist es echt so krass im Supermarkt? Ich war seit zwei Wochen nicht mehr einkaufen, ich muss mich auf meine Eltern verlassen. Wir haben hier gerade so viel zu tun, dass ich froh bin, wenn ich überhaupt zum Essen komme“, sagte sie und ich sah die Schatten unter ihren Augen, die von den ganzen Nacht- und Frühschichten kamen. „Es ist ein Albtraum, aber wahrscheinlich nichts gegen das, was ihr hier so erlebt. Wir hätten doch direkt zusammenziehen sollen, nach der Schule, dann wäre mein Leben echt um Einiges entspannter“, antwortete ich. Wir wollten eigentlich nach unserem Abitur in eine gemeinsame WG ziehen, aber da ich mich nicht hatte entscheiden können, was ich studieren wollte, mussten wir das auf später verschieben, was ich gerade allerdings ziemlich bereute.
„Die Leute kommen reihenweise panisch in die Notaufnahme und wollen getestet werden und die ganzen Nachbardörfer schicken ihre Patienten zu uns, weil wir noch freie Intensivbetten hatten“, sagte sie und rollte mit den Augen. „Aber das stimmt, dann könntest du immer schön für mich kochen und wir könnten Hamsterkauf-Geschichten aus dem Supermarkt gegen panische Patienten-Geschichten aus dem Krankenhaus tauschen“, fügte sie lachend hinzu. Ich wusste, wie sehr sie es hasste hysterische Patienten zu behandeln. „Mia, kommst du, wir müssen hoch, Dr. Schuhmann hat mich angepiept“, rief eine männliche Stimme, die offensichtlich einem von Mias Kollegen gehörte. Mia schaute mich entschuldigend an und ich sagte: „Alles gut, geh schon. Wir telefonieren später.“ Ich lachte, warf ihr eine Kusshand zu und ging in Richtung zuhause. Meine Laune war wieder deutlich besser und ich freute mich sogar ein bisschen, als meine Mutter mir eine Nachricht schrieb, in der stand, ich solle doch bitte kommen, sie wolle jetzt kochen und brauche die Milch. Ich mochte es mit ihr in der Küche zu sitzen und zu kochen, also lief ich ohne Umwege nach Hause. Immerhin konnte ich ja nicht wissen, dass mich dort ein noch viel größerer Albtraum erwartete, der meine gute Laune gleich wieder zunichtemachen würde.
(Carla Olbrück)
Sechste Geschichte
Nach dieser Geschichte wirken einige ziemlich erleichtert, dass sie diesen Wahnsinn bei sich zuhause nicht mitmachen müssen. „Es ist echt komisch, dass wir hier von alldem kaum etwas mitbekommen“, bemerkt einer. Dieser Bemerkung wird von vielen zugestimmt. Derselbe Mann meldet sich zu Wort, um jetzt eine Geschichte über die Pest zu erzählen.
Wir schreiben das Jahr 1346, das Jahr, in dem die Pest begann. In dieser Geschichte geht es um den Vater und Marktverkäufer Leonardo Bianchi und um seine Mitmenschen. Im Jahr 1346 kommt die Pest in Italien langsam ins Rollen, allerdings gibt es bis auf ein paar tote Ratten und wenige infizierte Personen keine Indizien für eine Pandemie. Deshalb nehmen viele Menschen die Pest nicht ernst und denken es sei erneut eine kleine Infektionswelle, die schnell wieder vergessen ist. Dem wird bekannterweise nicht so sein, denn am Ende kann die Pest 25 Millionen Tote verzeichnen, was ein Drittel der damaligen Bevölkerung ausmachte. Es war ein normaler Samstag in Genua, Leonardo war wie jeden Samstag auf dem Weg zum Markt, um selbst angebautes Gemüse aus seinem Garten zu verkaufen und um einige Sachen für seine Familie zu besorgen. Er baute also seinen Stand auf und sogleich kamen die ersten Kunden zu ihm, darunter auch sein Freund Giorgo. „Guten Tag Giorgo“ grüßte Leonardo. „Guten Tag Leonardo, wie geht es dir?“ „Gut und dir?“ „Mir ebenfalls, mich wundert es allerdings, dass hier noch so viele Leute sind.“ „Wieso das denn“, entgegnete Leonardo. „Hast du noch nichts von dieser neuen Krankheit gehört? Ist wahrscheinlich auch nicht so wichtig, wird ja doch nur wieder eine kleine Krankheitswelle.“ „Nein, ich habe noch nichts über eine neue Krankheit gehört, wie heißt sie denn und wie wird sie übertragen?“ „Sie heißt Pest, soll es schon einmal hier gegeben haben aber man ist sich nicht sicher, wie sie übertragen wird, und man hat angeblich nur ein wenig Fieber und Schüttelfrost“. „Ach so, aber war es das letzte Mal nicht viel schlimmer, sollte man sich keine Sorgen machen?“ „Ja letztes Mal war es dramatisch, allerdings gibt es