Boccaccio reloaded. Centino Scrittori
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Als Anfang 1943 Stalingrad verloren war, schien etwas in der Luft zu liegen. Nicht, dass die Menschen anfingen zu zweifeln. Sicherlich gab es jene, die jetzt oder auch schon davor ahnten, dass ihr Land aus diesem Chaos nicht heil davonkommen würde, doch die Mehrheit schien sich nichts anmerken lassen zu wollen. Zwar fielen die Anlässe für Einladungen mehr und mehr aus – was nebenbei bemerkt mich nicht weiter bedrückte –, doch umso schärfer, umso ernsthafter wurde das „Heil Hitler!“ meines Hausverwalters.
Auf den Straßen ging auch sonst das Leben weiter. Die Menschen saßen, standen und unterhielten sich – quatschten regelrecht. Man sah Schuljungen, die Rohstoffe für die Industrie sammelten. Sonntags wurde in den Parks idyllisch gepicknickt, natürlich mit sparsamer Verpflegung. Doch kaum jemand verlor ein Wort über den Krieg.
Ende 1943 kamen dann die Flieger immer häufiger und mit ihnen auch der Tod. Ich dachte an meine Kindheit zurück und dann an meine Familie, die ich in einem kleinen Dorf bei Potsdam zurückgelassen hatte. Der Anblick der brennenden Häuser war tragisch und doch faszinierte er mich. Warum fügt der Mensch sich solch ein Leid zu, fragte ich mich später immer wieder, suchte verzweifelt nach einer Antwort. Warum suchte er eine Vernichtungsbeziehung mit so vielen Dingen in der Welt? Es war eines der Dinge, für die ich zeitlebens keine Antwort fand.
Mit den Luftangriffen wurde dieser Zerstörungswille, dieser Zerstörungszwang Teil unseres Alltags. Der Krieg war nicht mehr irgendwo in der Ferne, sondern nun bei uns. Fast jeden Abend dröhnten die Sirenen. Morgens brannten die Häuser. Ich weiß noch, wie ich kurz nach dem Krieg zurück nach Berlin musste, um einige Verwaltungsangelegenheiten zu klären. Erst damals wurde mir das ganze Ausmaß der Zerstörung klar. Als ich 1937 eingezogen war, war Berlin eine stattliche Metropole gewesen. Nun sah ich einen Trümmerhaufen vor mir liegen. Ich schaute in die Augen einer jungen Frau und dachte an das Zerstörerische, an das Böse im Menschen. Umso mehr faszinierte mich sein Streben nach Normalität. Der ein oder andere verlor seine Wohnung, doch die Menschen schienen sich noch immer nichts anmerken lassen zu wollen.
Besonders merkte ich dies in meinem eigenen Haus. Die Nächte verbrachten wir im Luftschutzkeller. Der Hausverwalter, seine Frau, die Frau mit Kind, die im Geschoss über mir wohnte, und der fahle Greis, wir alle saßen dort unten und warteten. Die Luft war dick und muffig, es rieselte Staub von der Decke, es wurde kaum ein Wort geredet. Das Kind weinte schrecklich. Es merkte die Angst seiner Mutter. Sie saß dort, ihr Kind im Arm, und sprach nie ein Wort. Ihr Mann kämpfte noch im Osten, sie wusste, wie aussichtslos die Lage war. Manchmal schimpfte der Hauverwalter über das Geschrei des Kindes. Manchmal fluchte er über die Juden und was sie Deutschland eingebrockt hätten. Seine Frau saß neben ihm. Sie war totenblass und zitterte. „Sie werden uns alle holen“, rief sie und erzählte dann von „den Russen“ und was sie mit den Deutschen machen würden. Der fahle Greis schien davon recht unbeeindruckt. Zur Stunde der Luftangriffe war er bereits wieder oder noch immer im Vollrausch. Er kam langsam die Treppe hinuntergeschritten. Wenn er den Keller betrat, erfüllte eine Fahne den Raum, die der Hausverwalter gelegentlich als „in unerhörtem Maße unpatriotisch“ bezeichnete. Mehr sagte er nicht, vielleicht weil er noch ein wenig Respekt hatte für den fahlen Greis, der schließlich für sein Deutschland in den Krieg gezogen war. Vielleicht fürchtete er aber nur den schweren, muskelbepackten linken Arm, den der fahle Greis noch hatte, vermutlich so stark von der ganzen Flaschenschlepperei. Wenn dann die Frau des Hausverwalters mit ihren Geschichten über „die Russen“ anfing, lallte er nur: „Sollen sie doch kommen!“
Auch ich hatte Angst. Doch Angst ist ein Zustand, an den man sich schnell gewöhnt. Es war nicht jene Angst vor dem Tod, wie sie mich in den Jahren meiner Kindheit nachts heimsuchte. In diesen Nächten war es etwas Intuitives, etwas, was ich nur schwer kontrollieren konnte. Es war, als würde ich zu einem Tier mutieren, dessen Überlebensinstinkt die Kontrolle übernimmt. Ich dachte dann manchmal an die Menschen, die in diesen Nächten starben. Tragisch war all das, doch ich merkte, wie wenig mich ihr Tod interessierte – wie wenig mich der Tod an sich interessierte. Ich dachte nicht mehr über ihn nach, sondern nur noch über das Leben. Ich schätze, in dieser Zeit suchte niemand nach den Fragen und Antworten des Todes. So wie ein Seiltänzer niemals nach unten schaut, entwickelte man einen starren Blick auf das Leben. Ebenso stark wie der Wille zum Leben war der Wille, die Normalität zu erhalten. Je dunkler die Nächte im Luftschutzkeller, umso heller versuchten die Menschen den Tag zu machen. Immer noch gab es Picknicks im Park, die Frau des Hausverwalters trug sonntags ihr Kleid, fröhlich wurden Lieder beim Straßenfreiräumen gesungen. An Ostern 1944 war die Stimmung gut. Ich merkte es ja an mir selbst; ich ging nun ins Café und las Zeitung wie an einem gewöhnlichen Sonntag. Es war, als ob das Offensichtliche verschwand, wenn es nicht ausgesprochen wurde. Es war damals präsent in jedem Moment unseres Lebens. Hätte man es ausgesprochen, dann wäre es zu viel geworden, dann wäre vielleicht Schluss gewesen. Worüber ich lange Zeit nachdachte, war die selbstsüchtige Sturheit, eine Feigheit, die zu den Grausamkeiten dieser Jahre führte; darin musste ich einen faszinierenden Überlebenswillen erkennen. Ein naiver Instinkt, der mich in dieser Zeit antrieb. Umso irritierender war es, wenn dieser Instinkt bei jemandem versagte. Der fahle Greis sah seit Wochen besonders schlecht aus. Eines Tages stand er dann an meiner Tür und bat mich um Geld. Er hatte keine Fahne, was mich nicht überraschte, und erzählte mir, dass in seinem alten Lebensmittelgeschäft eine Bombe eingeschlagen war und dass er nun nicht mehr an seinen Schnaps rankommen würde. Er scheute sich nicht mehr, das Offensichtliche auszusprechen. Ich gab ihm ein paar Mark, dann zog er dankend ab. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.
Die folgenden Tage war er nicht im Luftschutzkeller anzutreffen. Dann eines Nachts, wir saßen da, der fahle Greis fehlte wie die Tage zuvor, gab es einen gewaltigen Knall. Staub rieselte von der Decke. Die Frau des Hausverwalters schrie schrecklich. „Jetzt haben sie uns“, brüllte sie. Das Kind der Nachbarin von oben war verdutzt. Im Gegensatz zur Frau des Hausverwalters war es nun still und guckte nur entgeistert in die Runde – man hatte ihm seine Rolle geklaut. In diesem Moment dachte ich nicht an den Tod anderer Menschen, sondern an meinen eigenen. Als das Feuer am folgenden Tag gelöscht wurde, holten sie uns aus dem verschütteten Keller heraus. Gleich zwei Bomben hatten das Haus getroffen. Die erste war neben dem Haus eingeschlagen und hatte die Fassade zersprengt, die zweite, eine Brandbombe, hatte das Haus in Flammen gesetzt. Selten sah ich einen solch hasserfüllten Menschen wie die Frau des Hausverwalters an diesem Tag, als wir aus den Trümmern kletterten. Jetzt, wo sie auf die Überreste ihres einstigen Zuhauses guckte, jetzt, wo sie in Sicherheit war, entlud sich all ihr Zorn und all ihre Wut auf „die Russen“ und „die Juden“ und all die Völker, die angeblich ihr Heim und ihre Nation zerstört hätten. Es gibt wirklich nur wenige Dinge, die hässlicher sind als ein Mensch, dessen Herz voll Hass ist. Bald fragte ich mich, wo der fahle Greis stecke. Wir halfen den Tag über zu bergen und Teile der Trümmer wegzubringen. Bei Sonnenuntergang fanden wir ihn dann. Es war nicht mehr viel von ihm übrig, mir wurde schlecht und ich fragte mich, ob er sich schon davor ein Ende gesetzt hatte. So endete meine Zeit in der Hauptstadt. Es gab nun nichts mehr, was mich hier hielt, und schon am nächsten Tag nahm ich den Zug nach Potsdam.
Das ist der Punkt, bis zu dem ich meinen Enkeln die Geschichte meistens erzähle. Dann setzt mein Mann ein und erzählt ihnen, wie ihr Opa ihre Oma noch vor Kriegsende in Brandenburg kennengelernte, wie sie 1945 heirateten und bald zu seiner Mutter nach Frankfurt zogen, um sich