Lichtfisch. Arthur Witten
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»Komm schon. Du hast elementare Sinn-Einheiten, zum Beispiel eine Gruppe von Menschen, die den Sinn des Lebens in – sagen wir mal – der Auferstehung nach dem Tod sehen. Diese Gruppierung – «
Er macht eine bedeutungsschwangere Pause und hebt den Zeigefinger:
» – die nicht einmal räumlich lokalisiert sein muss, bildet einen Weißschen Bezirk. Durch Bloch-Wände getrennt, schließen sich Bezirke an, also Menschengruppen, die den Sinn in ganz anderen Dingen sehen. Laufen die Sinn-Ausrichtungen benachbarter Gruppen konträr, gibt es Spannungen.«
»Ah, verstehe, du willst die Glaubenskriege physikalisch erklären.«
»Nein. Das mit dem Leben nach dem Tod war ja nur ein Beispiel. Der Sinn der Lebens hat nicht zwangsläufig etwas mit Religion zu tun. Ein anderes Beispiel wäre, äh …«
» … die Frage, ob Ordnung ein Lebensprinzip ist? Ulla lebt da in einem anderen Weißschen Bezirk als du, und die Bloch-Wand ist deine Tür.«
Was Hari betrifft, ist Ordnung eine mehr oder weniger überflüssige Option, für Ulla ist sie Lebensinhalt. Klar, dass es da fast täglich Zoff gibt, sei es, weil Hari die Telefonrechnung verlegt, das Geschirr nicht gespült oder keinen neuen Kaffee besorgt hat.
Und Ulla? Wenn es nach ihr ginge, wären die Lebensmittel im Kühlschrank alphabetisch geordnet, oder besser noch nach Verfallsdaten. Und sie liebt Kühlschrankmagnete. Vermute ich. Am besten welche mit irgendwelchen positiven Lebensweisheiten. Oder der Aufschrift ›wichtig‹, gefolgt von mindestens zwei Ausrufezeichen. Damit werden Zettel mit Informationen für Hari fixiert, wie zum Beispiel:
›Die Mülltonne wird morgen geleert‹
›Es ist keine Milch mehr da‹
›Gestern war die Müllabfuhr da …!‹
›Milch kaufen!!!‹
Die Zahl der Ausrufezeichen ist ein exponentieller Gradmesser für die Dringlichkeit der Botschaft, das ist allerdings noch nie zu Hari durchgedrungen.
»Ulla? Sehr witzig. Da fällt mir ein, ich sollte noch Kaffee …«
»Ich hab’ aus einer Vorahnung heraus Kaffee besorgt und den Zettel schon vom Kühlschrank weg.«
»Oh, danke!«
Er scheint ernsthaft überrascht, aber auch verwirrt, weil ihn der Kaffee aus dem Konzept gebracht hat.
»Vier Ausrufezeichen sind dein neuer Rekord, Hari.«
»Ja, schon gut, ich weiß. Was bin ich dir schuldig?«
»Passt schon. Das regeln wir beim nächsten Mal.«
»Soll ich uns ’nen Kaffee machen, jetzt, wo wieder einer da ist?«
Typisch Hari. Unverbesserlich.
»Immer.«
Hari schlurft nach draußen, um Kaffee zu kochen. Ich bleibe in seinem Zimmer und sehe mir seine Aufzeichnungen auf dem Schreibtisch an. Er hat ein Rechteck auf ein Blatt Papier gemalt, in kleine, unregelmäßige Bereiche unterteilt und kleine Pfeile in alle Richtungen eingetragen. Darunter dasselbe Bild, nur dass die Pfeile in mehr oder weniger dieselbe Richtung zeigen. Darunter steht in Haris Handschrift: Hat das Universum einen Sinn?
Ich gehe zu Jogi. Eine grünliche Schimmelschicht überzieht mittlerweile das untere Drittel des Bechers. Bei meinem letzten Besuch konnte man noch die Reste des Himbeerjoghurts erkennen, was einen guten Kontrast zu dem grüngrauen Pelz abgab, aber mittlerweile ist alles zugewuchert. Mal sehen, wann das Ding da drin Augen oder Beine entwickelt … in Haris Zimmer ist alles möglich.
Hari kommt mit zwei Tassen Kaffee wieder zurück.
»Hier ist deiner. Schwarz und verbittert, wie immer. Milch ist, äh, gerade aus.«
Er grinst verlegen.
»Danke.«
»Wo war ich? Ach ja, die Sinnpfeile in den Weißschen Bezirken des Universums.« Er zieht die Tür hinter sich zu. »Die Frage ist doch: ist das Universum magnetisch, also im übertragenen Sinne – gibt es einen globalen, einen universellen Sinn? Oder ist alles sinnlos?«
Ich nippe vom Kaffee, bevor ich antworte. Die Theorie hat was, zugegeben. Bezirke, in denen irgendwas sinnvoll ist, andere Bereiche, in denen gerade jenes Verhalten sinnlos erscheint. Ergibt Haris Theorie Sinn? Hat das Leben einen Sinn?
In diesem Moment klopft es an der Tür, und fast zeitgleich fliegt sie auf, bevor Hari reagieren kann. Ulla stürmt herein, ihre graublonden Haare wie immer streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Jetzt reicht es aber langsam, Harald. Seit drei Tagen ist keine Milch mehr im Kühlschrank, und du hältst es nicht für notwendig, neue zu besorgen. Dafür steht seit zwei Wochen dein blöder O-Saft offen drin herum, obwohl der seit einem halben Jahr abgelaufen ist. Mir steht es bis hier!«
Ulla deutet mit der flachen Hand über ihren Kopf.
»Kümmere dich gefälligst mal drum und lies mal die Notizen am Kühlschrank, steht ja alles dran.«
Erst jetzt scheint sie mich zu bemerken.
»Hallo Martin, hast du den Kaffee besorgt?«
Ich nicke. »Hallo, Ulla.«
»Danke – wobei ich nicht verstehe, warum du ihn« – sie macht eine Kopfbewegung zu Hari – »auch noch in seiner Faulheit unterstützt. Rede du mal mit ihm, das kann doch so nicht weiter gehen.”
Ich nicke wieder. Diese Aufforderung kommt so ungefähr jedes Mal, wenn sie mich sieht.
Sie wendet sich wieder Hari zu. »Kümmer’ dich drum!«, faucht sie noch einmal, dann stürmt sie aus Haris Zimmer und donnert die Tür hinter sich zu.
Das gibt dem Zeitschriftenstapel den Todesstoß. Langsam, fast in Zeitlupe kippt er zur Seite und begräbt Jogi unter sich. Mach’s gut, kleiner Freund. Hier endet die Evolution für dich, denke ich und ertappe mich dabei, ernsthaft über die Möglichkeit zu grübeln, in ein paar Jahren einen versteinerten Joghurtbecher aus Haris sedimentierten Unterlagen zu meißeln.
Ich trinke den Kaffee aus und halte die Tasse fest. Wenn ich sie hier abstellen würde, würde sie vielleicht demnächst Jogis Schicksal teilen. Nach Ullas Standpauke ist Haris Stimmung für Theorien und Hirngespinste aber erst einmal dahin.
»Ich muss dann mal wieder. Ich denk’ drüber nach – klingt vielversprechend, aber ergibt deine Theorie auch wirklich Sinn?«
Ich zwinkere Hari zu, aber der ist gedanklich momentan in seinem eigenen Universum. Er betrachtet sinnierend den umgefallenen Stapel.
»Ja, ich muss dann auch mal in die Stadt, Kaffee kaufen.«
»Milch.«
»Was? Ach ja, Milch.«
»Mach’s gut, Hari, bis die Tage.«