Lichtfisch. Arthur Witten
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»Könnte sein. Ja, wahrscheinlich. Es gibt aber Theorien, wonach der Raum selber zählen und rechnen könnte. Konrad Zuse, der Mann, der den ersten Computer gebaut hat, hat sich mit so etwas auseinandergesetzt. Leider findet man dazu nicht allzu viel im Netz. Und rechnender Raum entsteht vermutlich auch nicht spontan.«
»Rechnender Raum – das klingt schon sehr futuristisch.«
»Zuse hat seit den 1940er Jahren darüber nachgedacht.«
»Hat sich dann vermutlich nicht auf breiter Front durchgesetzt«, merke ich an. Der Name Zuse sagt mir was. Sein Z3 ist quasi der erste frei programmierbare digitale Computer gewesen. Groß wie ein Schrank. Aber rechnender Raum?
»Deswegen muss es aber nicht zwangsläufig falsch sein.«
Harald Stein, 2018-11-30
09: 58: 17
Heute ist Freitag. Harald sitzt in seinem Arbeitszimmer. Ein paar letzte Tests, dann sollte der lästige Bug in der Terminansicht behoben sein. Ja, es sieht gut aus.
Harald lädt die Änderungen hoch, schreibt noch eine kurze Info an seine Kollegen und fährt den Computer herunter. Heute feiert er ein paar Überstunden ab. Abends spielt Jonesy mit Hanna auf dem Weihnachtsmarkt, und bis dahin: keine Termine, keine Verpflichtungen, keine lästigen Telefonate.
Harald hat Jonesy seit dem Gespräch in der Pizzeria nicht mehr getroffen. Zu viel zu tun. Und Jonesy ist momentan entweder in der Arbeit oder irgendwo in Sachen Musik unterwegs. Ein paar kurze Textnachrichten, ein paar Mails – für mehr hat es in letzter Zeit einfach nicht gereicht.
Und jetzt? Harald überlegt. Jonesy ist noch in der Arbeit. Ulla auch. Das ist gut – und schlecht, denn falls ein Mieter anruft, muss er ran. Also raus aus der Wohnung.
Das Hallenbad am Stadtrand hat einen eher mittelmäßigen WellnessBereich, aber Harald setzt sich gerne ins Dampfbad. Dort ist es still, im Gegensatz zur Sauna, in der immer Entspannungsmusik vor sich hin plätschert – Harald muss an Jonesys Musikboxprojekt denken und schmunzelt. Das Dampfbad, der perfekte Ort zum Nachdenken.
10: 45: 03
Draußen ist es nasskalt und grau, es regnet leicht. Die wohlige Wärme im Dampfbad tut gut. Außer Harald ist nur eine ältere Frau in der Kabine, die er im Dampfschleier nur schemenhaft wahrnimmt. Sie hat ihn beim Eintreten misstrauisch von oben bis unten gemustert und ist dann demonstrativ ein Stück weiter weg von der Tür gerutscht. Sicherheitshalber ist Harald dann in die entgegengesetzte Ecke gegangen.
Aber immerhin: unter diesen Voraussetzungen wird sie kein Gespräch mit ihm anfangen, er hat also seine Ruhe. Gut.
Er schließt die Augen und denkt an das Gespräch mit Jonesy. Sie haben in der Pizzeria dann noch eine ganze Zeitlang an der Idee weitergesponnen. Jonesy hat interessiert zugehört, wie Harald Zuses Theorie im Schnelldurchlauf vorgestellt hat. Dann irgendwie der Schwenk zu einer möglichen Computersimulation und der Frage, ob man überhaupt an irgendwelchen Kriterien feststellen könnte, ob man sich in einer solchen Simulation befindet. Würde man Bugs als solche wahrnehmen? Wie würden sie sich äußern?
Zumindest gibt es vermutlich keine Hotline, an deren Ende Leute wie ich sitzen und sich irgendwelche Beschwerden anhören müssen, denkt Harald. Sein Job ist … ja, an sich okay, Bezahlung ist in Ordnung, die Kunden meistens freundlich, Chef und Mitarbeiter eigentlich super. Eigentlich. Aber?
Harald atmet langsam aus. Während des Physikstudiums hat er sich die Zukunft ganz anders vorgestellt. Grundlagenforschung, neue Hypothesen und Theorien aufstellen und sich den Kopf darüber zerbrechen, warum die Welt so ist, wie sie ist, und nicht ganz anders. Vom Schreibtisch aus, mit Papier und Bleistift und ab und an einem Computer die Welt erkunden, neue Möglichkeiten entdecken, ihre Wahrscheinlichkeiten berechnen. Naturkonstanten aus komplexen Formeln und versteckten Zusammenhängen ableiten. Sich viele Fragen stellen: Warum ist das Universum so groß? Warum haben wir genau drei Dimensionen? Warum läuft die Zeit nur in eine Richtung? Tut sie das überhaupt, oder sieht es nur für uns so aus? In vielen Formeln, die die Wirklichkeit abbilden, kommt die Zeit entweder gar nicht vor, oder sie kann tatsächlich vorwärts und rückwärts laufen, ohne ein Gesetz zu brechen.
Und jetzt? Kundenbetreuung und Softwareentwicklung. Auch hier jede Menge Fragen: warum kann ich mich nicht mehr einloggen? Warum taucht die Trainingseinheit mit XY nicht in der Monatsabrechnung auf? Warum kann ich nicht mehrere Trainingsstunden gleichzeitig in der Maske eintragen? Für die Nutzer unter Umständen wichtige, ja fundamentale Fragen und Probleme, aber trotzdem …
Die Frau in der Kabine steht auf und geht.
Kann man denn überhaupt objektiv einteilen, welche Fragen wichtiger oder fundamentaler sind? Aus der Grundlagenforschung sind quasi nebenbei viele technische Errungenschaften entstanden, die unseren Alltag erleichtern, das ist richtig, aber: kann der Mensch überhaupt herausfinden, wie das Universum funktioniert? Und wenn ja – was hätte er davon? Würde das irgendwas am Leben ändern? Wären die Menschen dann glücklicher, zufriedener? Gäbe es dadurch weniger Kriege und Hunger?
Seine Arbeit hat vermutlich auch noch keinen Krieg verhindert, aber einige verzweifelte Anrufer tatsächlich glücklich gemacht – so gesehen ist seine Arbeit vielleicht wichtiger, zumindest für den Kunden.
Womit man eigentlich wieder bei der Sinnfrage landet. Hat Sportvereinsverwaltungssoftware irgendeinen Sinn? Hat die Grundlagenforschung irgendeinen Sinn? Hat das Universum irgendeinen Sinn? Oder sind wir tatsächlich nur Figuren in einem komplexen System, das nach gewissen Regeln abläuft? Wäre das dann eine Simulation im klassischen Sinn – oder eher ein Computerspiel? Wer spielt uns dann?
Die Tür öffnet sich wieder, die ältere Frau kommt zurück. Ein halblautes Atemgeräusch deutet Missfallen darüber an, dass Harald sich erdreistet, immer noch im Dampfbad zu sein. Muss der denn nichts arbeiten? Harald beschließt, auch diese Frau glücklich zu machen, in dem er aus ihrem Leben und ›ihrer‹ Dampfkabine geht.
18: 34: 07
Harald hat nachdem Dampfbad erst mal in der Stadt was gegessen und sich dann in der Bücherei ein paar alte Bücher angesehen. Er hat gehofft, bei den Philosophen vielleicht ein paar Denkanstöße zu bekommen, aber die Geisteswissenschaftler haben einen Schreibstil, der den Naturwissenschaftlern diametral entgegensteht. Unter den Physikern gibt es auch Plaudertaschen, die lieber zwei Sätze zu viel als einen zu wenig aufs Papier bringen, aber wenn es um Philosophie geht, ist es realistischer, in Absätzen oder gar Kapiteln zu rechnen.
Auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt ist Harald dann fast mit einer schwer bepackten Frau kollidiert, die er komplett übersehen hat, weil er zu sehr mit sich und seinen Gedanken beschäftigt war. Die Frau hat dann im Weitergehen irgendwas mit ›ferngesteuert‹ zu ihrem Begleiter gemurmelt – ferngesteuert? Allzu verständlich. Aber was, wenn man tatsächlich ferngesteuert wäre? Würde man das denn selbst merken?
Harald bleibt abrupt stehen. Ein älterer Mann, der hinter ihm gelaufen ist, läuft fast ihn ihn hinein.
»So passen Sie doch auf!«, ereifert er sich.
»Entschuldigung«, murmelt Harald. Er tritt zur Seite, um den Strom der Menschen nicht zu behindern. Einige der vorbeischlendernden, -eilenden und -hetzenden Menschen wirken tatsächlich ferngesteuert: leerer Blick, ein irgendwie mechanischer Gang. Sollte es tatsächlich Menschen geben, die realer, echter sind, während