Gift. Sandra Schaffer
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Minnie erwachte in ihrem Zimmer, allein, aber glücklich. Sie lebte zwar nicht im Paradies, aber doch besser als in ihrer alten Heimat. Dort war sie eine Aussätzige, lebte ein Leben am Abgrund, fern ab der Zivilisation. Und schuld daran war nur ihre Mutter! Diese war alleinerziehend, hatte vier Kinder durchzubringen und dann kam ihre Älteste auch noch mit einem Kind im Bauch an.
Minnie war erst vierzehn und hatte nur einmal Sex gehabt. Doch das hatte schon gereicht, um ihr ganzes Leben aus den Fugen zu reißen.
Ihre Mutter hatte ihr ein Ultimatum gestellt, entweder sie trieb ab oder sie zog aus. Minnie wollte nichts von beidem, doch ihre Mutter ließ nicht locker. Also verschwand Minnie. Sie ging zum Vater des Kindes. Er aber wollte sie auch nicht aufnehmen und konnte auch kein Kind gebrauchen. Er sollte nach dem Sommer bei seinem Vater auf dem Bau anfangen.
Minnie hatte geglaubt, dass sie ihm mehr bedeuten würde; hatte geglaubt, dass er sie liebte. Doch ihm war nur wichtig gewesen, dass sein Vater nichts erfuhr.
Minnie hatte keine Perspektive, kein Dach über dem Kopf, keine Freunde, niemanden, der ihr half oder sie wenigstens bei sich aufnahm. Sie lebte nun auf der Straße. Ganz allein, schwanger, den Widrigkeiten der Umwelt schutzlos ausgesetzt. Sie hatte ihre Mutter gehasst, hatte den Vater ihres Kindes gehasst. Sie alle gehasst, weil sie sie im Stich ließen. Doch sie schaffte es und bekam ihr Kind. An einem heißen Juliabend in einer Klinik. Die Erschöpfung durch die Geburt hatte dafür gesorgt, dass sie zwölf Stunden geschlafen hatte. Niemand hatte sie geweckt, weil ihr Baby Hunger hatte oder schrie, und als sie die Augen öffnete, hatte sie auch gewusst, warum. Ihre Mutter hatte neben dem Bett gestanden, ohne ihre Geschwister und auch ohne ihr Baby. Dafür wartete eine junge Familie draußen vor der Tür.
Ihre Mutter hatte ihr einfach erklärt, dass das Kind zur Adoption freigegeben werden würde, dass sie selbst noch zu jung war, um diese Entscheidung zu treffen und zu verstehen, weshalb sich ihre Mutter darum gekümmert hatte.
Minnie hatte gekocht vor Wut, hatte aufspringen und ihrer Mutter an die Gurgel gehen wollen, doch sie war zu schwach und konnte sich nicht bewegen, nicht einmal protestieren konnte sie.
Sie hatte ihr Baby, ein Mädchen, wie sie erfuhr, nie zu Gesicht bekommen. Sie hatte es nie im Arm halten, ihm sagen können, wie sehr sie es liebte.
Ihre Mutter hatte ihr erlaubt, nun wieder nach Hause kommen zu dürfen, doch Minnie war nicht zurückgekehrt. Stattdessen war sie auf der Straße geblieben, wo sie Jahre später einem Mann begegnet war, der sie wegbrachte, ihr versprach, ihr Baby zu finden und ihr ein besseres Leben zu verschaffen, als sie es in ihrer Heimat hatte.
Sie war nun seit etwas mehr als einem Jahr in den Staaten, doch ihr Kind hatte sie noch immer nicht zurück. Sicher, ihr Leben war wirklich besser. Sie hatte nun ein eigenes Zimmer, verdiente Geld und hatte den Mann ihrer Träume gefunden. Nur musste sie diesen derzeit noch mit einer anderen teilen, doch hoffte sie, dass sich dies bald änderte.
5
Als O’Leary am nächsten Morgen ins Dezernat kam, herrschte dort schon reger Betrieb. Sein Team bestehend aus drei Mitgliedern, wartete schon auf ihn. Lopez, die einzige Frau, hatte vor einem Monat die Detective-Prüfung abgeschlossen und war daher mit ihren zweiunddreißig Jahren nicht nur das jüngste Mitglied in seinem Team, sondern auch das unerfahrenste, wenn es um Mordermittlungen ging. Aber sie lernte schnell dazu. Außerdem hatte O’Leary das Gefühl, sie fürchte sich vor ihm. Wenn dem so war, konnte nur sein Partner, Brown, daran Schuld tragen. Er hatte schon einmal einen jungen Detective vergrault, weil er ihm erzählt hatte, dass O’Leary jeden, der es wagte, ihm zu widersprechen oder mit jeder noch so unwichtigen Frage zu ihm zu kommen, die Hölle heiß machte. Obwohl Brown den jungen Mann nur hereingelegt hatte, hatte dieser jedes Wort für bare Münze genommen und sich versetzen lassen. Die Wahrheit aber war, dass O’Leary sehr wohl ein umgänglicher Mann war. Er stand hinter seinem Team und half allen bei Schwierigkeiten. Er hatte noch nie gegen ein Mitglied seines Teams die Stimme erhoben, ist überhaupt nur einmal in seinem Leben laut geworden und damals war er gerade einundzwanzig. Seine sechszehnjährige Schwester hatte ihr erstes Date gehabt und er war ihnen unauffällig gefolgt. Keinem der beiden war es aufgefallen, bis der Junge sich am Ende des Abends versuchte, an O’Learys kleine Schwester heranzumachen. Sie hatten im Auto gesessen, sie wollte sich verabschieden, als er sich zu ihr herüberbeugte und sie zu begrapschen versuchte. Sie hatte ihn weggestoßen und ihm eine Ohrfeige verpasst. Im nächsten Moment hatte O’Leary die Fahrertür aufgerissen und den Jungen herausgezogen. Er hatte ihm hart aufs Auge geschlagen, ihn gegen den Wagen gedrückt und ihm lauthals geraten, sich nie wieder an seine Schwester heranzumachen. Dieser Junge hatte es nie wieder versucht und auch kein anderer. Und obwohl seine kleine Schwester tagelang nicht mit ihm geredet hatte, weil er ihr heimlich gefolgt war, war sie ihm doch auch unheimlich dankbar gewesen, dass er da war.
Jensen, der Dritte in O’Learys Team war seit drei Jahren in New Orleans. Jensen kam aus Texas, wo er auch seine Prüfung zum Detective absolviert hatte. Er war zwei Jahre älter als Lopez und strotzte nur so vor Ehrgeiz.
O’Leary trat an seinen Schreibtisch, wo ihn schon der Bericht der Gerichtsmedizin erwartete. Er öffnete die Akte und begann zu lesen. Nun wusste er mit Sicherheit, dass Mr. Roberts keines natürlichen Todes gestorben war, dass tatsächlich Gift die Mordwaffe war. Sogar um was für ein Gift es sich bei dem Mord gehandelt hatte, nämlich das des Oleanders, stand schon fest. Sofort nahm er Abigail Roberts’ Akte zur Hand, weil er glaubte, darin etwas gelesen zu haben, das für seine Entdeckung – oder besser, der Entdeckung der Gerichtsmedizinerin – wichtig sein konnte. Und tatsächlich fand er genau, wonach er suchte, Mrs. Roberts’ Universitätsunterlagen. Und in diesen stand, dass sie einen Kurs in Botanik belegt hatte, was bedeutete, dass sie wissen musste, dass der Oleander giftig war!
* * *
Nachdem Abby im Dezernat ankam, verfrachteten die Detectives sie in einen Verhörraum. Das Licht im Zimmer war unangenehm hell, der verdammte Holzstuhl sehr unbequem. Sie holte sich einen Schiefer von dem Ding.
O’Leary und Brown betraten den Raum. O’Leary warf eine Akte auf den Tisch und setzte sich, Brown musterte sie mit grimmigem Blick und nahm neben seinem Kollegen Platz.
„Guten Tag, Mrs. Roberts, danke, dass Sie Zeit gefunden haben, herzukommen“, sagte Detective Brown, der Ältere, und Abby kam nicht umhin zu bemerken, dass ein Hauch Sarkasmus in seiner Stimme mitschwang.
„Selbstverständlich. Gibt es Neuigkeiten zum Mord an meinem Ehemann?“
„Ja, Ihr Mann ist vergiftet worden!“
„Wie bitte? Vergiftet? Aber warum?“
„Sagen Sie es uns! Das Zeug, mit dem er vergiftet wurde, war nämlich irgendetwas Pflanzliches. Ich kenne mich damit nicht aus. Aber Sie, Mrs. Roberts, soweit ich weiß!“
Abby verstand nicht, was er damit meinte, war nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Hatte er gerade angedeutet, dass er sie für die Mörderin hielt?
„Ich fürchte, ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
Der Jüngere schritt ein. „Sie kennen sich doch mit Pflanzen aus, Mrs. Roberts, ist das richtig?“
Abby nickte.
„Dann wissen Sie auch, dass der Oleander Gift enthält, tödliches Gift?“
„Ja