Es waren Habichte in der Luft. Siegfried Lenz

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Es waren Habichte in der Luft - Siegfried Lenz

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bei dem, was ich dir vorhin sagte, dann wirst du bald einen neuen Rock haben und deine Blumen besuchen können. Ich muß jetzt noch einige Briefe schreiben. Ihr entschuldigt mich doch, nicht wahr? Übrigens ist es auch schon Zeit, zu schließen. Wir sehen uns bald wieder, bestimmt, bestimmt.«

      Stenka und Erkki standen auf der Straße und hörten, wie die Tür hinter ihnen verschlossen wurde.

      Erkki blickte vorsichtig von der Seite auf Stenka. Ihm kam das Gesicht mit den schrägstehenden Augen bekannt vor. Er glaubte, diesem Mann vor langer Zeit begegnet zu sein, aber er wußte nicht, wann. Hastig forschte er in seinen Erinnerungen, doch das Gedächtnis ließ ihn im Stich. ›Vielleicht irre ich mich auch‹ – dachte er, ›vielleicht lasse ich mich durch die Ähnlichkeit dieses Mannes mit dem, den ich meine, täuschen.‹ Aber als Stenka ihn ruhig anblickte und ihn fragte, was nun zu tun sei, und als er dabei sein Ohrläppchen zwischen die Finger nahm, da hatte Erkki die Gewißheit, daß er sich nicht getäuscht hatte. Wenn das Gedächtnis nur funktionieren wollte!

      Ein Schuß zerriß den Abend. »Was war das?« fragte Stenka. »Nichts Besonderes. Es wird viel geschossen. Ich glaube, es ist das beste, wenn wir zu mir gehen.« Erkki streckte seine kurzen, dicken Finger nach dem Pappkarton aus, um seinem Begleiter die Bürde abzunehmen. Dieser schüttelte den Kopf.

      »Nein, danke, da ist nicht viel drin. Ein Hemd und ein paar Kleinigkeiten. Das ist zusammen nicht einmal so schwer wie ein Habicht. Wohnst du mit Leo in einem Haus?«

      »Ja.«

      »Wohnt ihr zusammen?«

      »Nein. Ich habe nur einen kleinen Raum für mich. Wenn man am Fenster steht, kann man in den Garten sehen. Im Sommer ist es wunderbar. – Du willst bei uns anfangen?«

      »Ja.«

      »Das ist gut. Arbeit haben wir fast zuviel.«

      Sie gingen über den leeren Marktplatz. Vor dem Gefängnis standen in Gruppen Kinder herum, die auf die kleinen, vergitterten Fenster zeigten und lachten. Ein blonder Halbwüchsiger ging mit ausgestopfter Brust, die Hände auf dem Rücken, zwischen den Gruppen herum und stellte jäh an Einzelne – nach Art der Lehrer – Fragen. Wenn die Antwort nicht sofort erfolgte, zielte er auf den Befragten mit dem Zeigefinger und rief etwas, woraufhin alle Kinder in Lachen und Schreien ausbrachen und dann zu den kleinen Fenstern hinübersahen, in der Hoffnung, man habe diesen Spaß verstanden.

      Der Angehörige der Volksmiliz vor dem Eingang trug sein Gewehr mit dem Lauf nach unten. Bei jedem Atemzug knarrte sein breiter, lederner Hüftriemen. Mittags, während seiner ersten Wache, hatte er über das Treiben gelacht. Jetzt beachtete er sie kaum. Es waren immer die gleichen Witze.

      Ein einsamer Lastwagen rumpelte über den Marktplatz und hielt vor dem Gefängnistor. Der Posten drückte auf einen an der Mauer angebrachten Klingelknopf, und ganz von ferne hörte man das metallische Gerassel des elektrischen Klöpfels, einen hämmernden, warnenden Aufschrei. Zwei Männer mit breiten, schmutzigen Lederschürzen erschienen und öffneten die Flanke des Autos. Sie luden sich riesige, frische Fleischstücke auf die Schultern und trugen sie ins Gefängnis: halbe Schweine, Ochsenschenkel, blutige Bauchlappen und Rippen. Der warme Geruch des Fleisches stieg in die Luft und breitete sich allmählich aus.

      Die Sonne verbarg sich immer mehr hinter den Kiefern. Ein junger, frohgemuter, lyrischer Frühling lag über Finnland, der mit nordischer Plötzlichkeit dahergekommen war und sich zu einem lauen Tyrannen aufgeworfen hatte über milchweiße Schenkel und Brüste, über verschlossene Herzen, über sprachlose Blumen und Gräser, zum Tyrannen vornehmlich auch über die jungen Männer und Mädchen und die klopfenden, atemlosen Leidenschaften des Fleisches und des Geistes. Die Fröste, die das Blut dick machen, waren verjagt. Der Sprungfreudige hatte ihnen sehr zugesetzt: der Frühling hatte den Frösten die Peitschen entwunden, mit denen sie das Fleisch zügeln.

      Erkki führte seinen Begleiter zu einem zweistöckigen, trübselig dreinschauenden Haus. Auf der rechten Seite vor dem Eingang befand sich ein Schaufenster und dahinter standen in Tontöpfen und Metallkübeln, seltsam angeordnet, zum Teil gesunde, zum Teil aber auch sehr angekränkelte Blumen: Waldtulpen mit unvollständigen Hüllen, behäbige, feiste Trollblumen, Leberblümchen, Schwertlilien, die aus dem Regenbogen entsprungen sein sollen, gezähnter Klatschmohn, große Blüten der Pfingstrose, deren Wert eine chinesische Chronik mit »Hundert Unzen puren Goldes« angibt, und dann und wann erblickte man den pfeilförmig-erotischen Aronstab.

      Mit unheimlich knarrendem Geschrei flogen große Vögel über den Marktplatz, den Kiefern zu.

      »Komm«, sagte Erkki, »wir wollen hinaufgehen. Wir werden uns das Zimmer teilen müssen, denn es gibt keine andere Möglichkeit, dich hier unterzubringen. Leo wird hoffentlich bald zurückkommen, der elende Geizhals.«

      Sie betraten einen unebenen, mit rotgebrannten Steinen ausgelegten Flur. Es roch hier sehr merkwürdig; das Alter des Hauses, die Blumen, ein grünlicher Spiegel und die weiche, schwarze Topferde schienen sich im Geruch zusammenzufinden. Eine ächzende Treppe führte hinauf in das obere Stockwerk. Irgendwoher kam sogar auf unerklärliche Weise etwas Licht, das dem Auge half, einen Weg zu finden.

      »Halte dich am Geländer fest«, sagte Erkki und stieg dann selber rasch die Treppe hinauf. Als sie oben standen, rief plötzlich eine Frauenstimme:

      »Wer ist da? Warten Sie einen Augenblick. Ich bin gleich da. Nur einen Augenblick. Ich komme ja schon. So.«

      Eine Frau in mittleren Jahren mit breiten, fetten Hüften und nackten Knöcheln stand vor ihnen. Sie trug einen ärmellosen Kattunkittel, der – wie man bemerken konnte – in Eile über den Körper gezogen war. Ihre Füße steckten in ausgetretenen Pantoffeln.

      »Ach, du bist es, Erkki«, gurrte sie. »Ich wollte gerade zu Bett gehen.« Sie schob ihren Leib vor und strich sich das Haar nach hinten. »Du hast ja jemanden mitgebracht?«

      »Ja«, sagte Erkki, »das ist …«

      »Ich heiße Stenka«, sagte der Mann mit dem Pappkarton. Erkki hatte das Gefühl, daß sein Begleiter log. Sein Gedächtnis begann wieder zu arbeiten, aber er konnte nicht herausfinden, wann er diesem Mann bereits begegnet war.

      »Ist das dein Freund?« fragte die Frau.

      »Wenn du willst, ja. Er wird uns außerdem bei der Arbeit helfen. Er versteht etwas von Blumen.«

      »Hat er schon mit Leo gesprochen?«

      Erkki antwortete der Frau nicht mehr, er hatte die Tür zu seinem Raum geöffnet und zog den Russen am Ärmel zu sich herein. Der Raum war fast kahl. Auf einem nur zur Hälfte in die Wand eingeschlagenen riesigen Nagel lehnte ein Spiegelscherben. An der Innenseite der Tür hing offenbar Erkkis Arbeitszeug, eine zerrissene Hose und eine in den Nähten geplatzte und an manchen Stellen glänzende Jacke. Unter dem Fenster stand ein aus Kisten zusammengenageltes Bett, am Fußende ein kleiner Klapptisch mit eisernem Gestell. Eine umgekippte Kiste diente als Sitzgelegenheit, eine andere als Waschtisch.

      Stenka wollte etwas sagen, aber Erkki deutete ihm durch ein Zeichen an, vorläufig nicht zu sprechen. Leise, so daß der Russe Mühe hatte, ihn zu verstehen, erklärte er:

      »Puh, dieses verdammte Weib! Immer wenn ich an ihrer Tür vorüberkomme, fragt sie: Wer ist da? Warten Sie einen Augenblick. Und dann taucht sie in ihrem sparsamen Kittel auf und kichert: Ach, du bist es. Ich wollte gerade zu Bett. – Ich habe sie eigentlich nur in Erinnerung, daß sie gerade ins Bett will, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sie ist Witwe. Früher einmal war sie Leos Geliebte. Jetzt duldet er sie nur noch. Puh!

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