Es waren Habichte in der Luft. Siegfried Lenz

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Es waren Habichte in der Luft - Siegfried Lenz

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setzte sich auf das Bett und zog die Knie an. Stenka nahm ein Ohrläppchen zwischen seine Finger, die schrägstehenden Augen blickten über den Garten. Er wagte nicht, seinen neuen Gefährten nach Matowski zu fragen, dem dieser Garten einst gehört hatte. Er war froh, einen Menschen wie Erkki gefunden zu haben, der ihm freimütig Aufklärung gab über alles, was er noch nicht einmal zu wissen begehrte, und der es sich offenbar angelegen sein ließ, den zukünftigen Arbeitskollegen in jeder Hinsicht ins Vertrauen zu ziehen.

      »Bist du eigentlich verheiratet?« fragte Erkki nach einer Weile.

      »Nein, warum fragst du mich danach?«

      »Ich dachte, du könntest mir etwas über die Frauen erzählen. Ich kenne nämlich ein Mädchen, weißt du: fleißig, ernst, braune Augen …«

      »Wann beginnt ihr am Morgen mit der Gartenarbeit?« unterbrach ihn Stenka.

      »Sehr früh. Zu früh vielleicht. Um fünf. Es kann dir passieren, daß du einen schönen Traum hast, daß du mit einem Mädchen irgendwo allein bist – und wenn du vielleicht gerade die Hände nach ihr ausstreckst –, dann rütteln dich riesengroße Finger an der Schulter, rütteln, daß du meinst, alle Knochen würden dir brechen, und dazu schreit dir eine Stimme ins Ohr: Raus, du Angorabulle, wie lange willst du noch schlafen?! Ausgebrummt, alte Nähmaschine! – Weißt du, wer so schreit?«

      »Nein.«

      »Leo, der alte Geizhals. – Aber, ich kenne ein Mädchen, weißt du, fleißig, ernst, lange glatte Beine. Es war ein prächtiges Mädchen, als wir noch die alte Regierung hatten. Wir wollten damals heiraten. Nun haben wir einen neuen Bürgermeister …«

      »Wie heißt der neue Bürgermeister?«

      »Wir nennen ihn den Grauen. Wir nennen ihn so, weil er ständig eine graue Hose und eine graue Jacke trägt, und weil sein glattrasierter Schädel grau aussieht.«

      »Hm. Arbeitet das Mädchen jetzt für die neue Regierung?«

      »Ja. Man hat ihr etwas in den Kopf gesetzt. Seitdem lebt sie nur noch ihrer Arbeit und einigen sonderbaren Ideen. Ich kann damit nicht konkurrieren. Ich habe sie sehr lieb, ja, wir wollten heiraten. Alles war bereits besprochen.« Erkkis Stimme wurde immer leiser. Er dachte an das Mädchen, stellte sich vor, wie sie an der Schreibmaschine saß, ernst und fleißig, übermüdet, den weißen Nacken herabgebeugt.

      Der Russe setzte sich auf eine Kiste, beide Männer schwiegen. Lautlos zwängte sich die Dämmerung durch das Fenster. Der Spiegelscherben auf dem nur zur Hälfte eingeschlagenen Nagel erblindete. Draußen war es still und warm. Nebenan weinte die Witwe. Ihr heiseres, feuchtes Heulen erstickte regelmäßig für einen Augenblick – wahrscheinlich biß sie in ihre Bettdecke – und drang dann wieder durch die dünne Seitenwand.

      Da hörten die Männer weithin hallende Schritte, Schritte, die von einem Riesen herrühren konnten. Jemand kam über den Marktplatz.

      »Das ist Leo«, sagte Erkki halblaut und erhob sich von seinem Bett.

      Wenige Sekunden später wurde unten die Tür aufgerissen. Stenkas Blut überfiel ein Schauer. Er glaubte jetzt schon den mächtigen Atem des Mannes spüren zu können, für den er arbeiten wollte. Dieser Atem erfüllte das ganze Haus. Das heisere Heulen der Witwe erstarb plötzlich und war nicht mehr zu hören. Erkki ging langsam zur Tür, als ob er darauf wartete, hinuntergerufen zu werden. Auch Stenka erhob sich und zog seinen Karton unter dem Tisch hervor, um ihn zur Hand zu haben. Da erklang auch schon eine Stimme, die so viel Gewalt hatte, daß sich die Türen fast von selber öffneten. Es war nur ein einziger Schrei, dazu ausreichend, einem Menschen den letzten Fetzen Boden unter den Sohlen fortzuziehen:

      »E-r-k-k-i!«

      Der Gerufene riß die Tür auf und sprang die ächzende Treppe hinunter. Am Treppenabsatz stand Leo: an die zwei Meter hoch, fett, kleine, gerötete Augen, die immer in Bewegung waren, tellergroße, fleischige Hände, dicke Lippen, schlecht rasiertes Doppelkinn und geöltes Haar. Er trug riesige Schuhe – Roskow sagte dazu Kindersärge –, weite, braunkarierte Hosen und eine nach innen gekehrte Pelzjacke.

      Da Leo mit seinem Körper den Zugang zum Flur versperrte, blieb Erkki dicht vor ihm auf der Treppe stehen.

      »Na, du Beuteltier«, sagte Leo (er liebte zoologische Vergleiche), »hast du die Hyazinthen hineingetragen?«

      »Ja«, antwortete Erkki.

      »Hast du ihnen frisches Wasser gegeben?«

      »Ja.«

      »Gut, lassen wir das. Warum solltest du nicht die Wahrheit sagen. – Ich habe mit dem Bürgermeister gesprochen. Er will heute nacht an den Booten arbeiten … unten … am See … Du wirst auch hingehen … um ihm zu helfen natürlich. Du wirst Werkzeug mitnehmen: Messer, Bohrer, Hammer … Gut, lassen wir das. Etwas Neues?«

      »Ja.«

      »Wieso?« fragte Leo und verlagerte das Gewicht seines Körpers von einem Bein auf das andere. Erkki versuchte, den kleinen, geröteten Augen auszuweichen; er stützte sich auf das Treppengeländer.

      »Da ist jemand, der viel von Blumen versteht. Er zieht selber zu Hause Natternköpfe. Er will bei uns arbeiten. Bisher hat er die Löhne in einem Sägewerk ausgerechnet.«

      »Können wir brauchen … Wo ist er … was will er haben?« In diesem Augenblick trat Stenka, der das Gespräch mit angehört hatte, aus Erkkis Zimmer und stieg langsam, den Pappkarton in der Hand, die Treppe hinunter.

      Leo trat einen Schritt zur Seite, um dem Fremden den Weg auf den Gang frei zu machen. Er sagte zu Erkki:

      »Du kannst das Werkzeug zusammensuchen … Du mußt dich beeilen …«, und zu Stenka gewandt:

      »Komm in den Laden.«

      Der Russe folgte ihm schweigend. Leo zündete eine Kerze an und befestigte sie mit ihrem eigenen Wachs auf einer Tischdecke. Die Blumen warfen sonderbare Schatten an die Wand. Stenka betrachtete sie lange.

      »Also«, sagte Leo mit seiner mächtigen Stimme, »du willst bei uns arbeiten? Wir brauchen einen Mann, der etwas von Blumen versteht und rechnen kann. Aber lassen wir das. – Blumen sind empfindlich wie kleine Vögel oder wie junge Mädchen. Man kann sie im Vorübergehen knicken. Oh, so eine Handvoll Blumenfleisch!«

      Leo griff mit seiner riesigen Hand nach einer Waldtulpe, riß ihr den Kopf ab, preßte diesen auf die dicke Oberlippe und schloß die Augen.

      »Die sind immer nackt«, röchelte er, »nackt und betäubend. Da möchte man krepieren vor Wonne, einfach umfallen und liegenbleiben. Oh, diese duftenden Biester. Allen möchte ich die Köpfe abreißen, allen!«

      Seine Augenlider zuckten. Stenka blickte ihn aus schrägstehenden dunklen Augen ernst an.

      »Wer die nur gemacht hat«, grunzte Leo. »Jemand wird sie wohl erschaffen haben … ganz bestimmt hat die jemand erschaffen … sonst wären sie ja nicht da. Fragt sich nur, wer diesen Einfall hatte … diesen seltenen Einfall … ein Schullehrer war es nicht, nein … aber die heilige Jungfrau … Manche Blumen haben Stiele wie Mädchenschenkel.« Er stockte einen Augenblick, zog aus einem Topf eine Blume mit langem Stiel hervor und wand ihn sich um das feiste Handgelenk.

      »Da ist gar kein Unterschied … absolut nicht!«

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