Es waren Habichte in der Luft. Siegfried Lenz

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Es waren Habichte in der Luft - Siegfried Lenz

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sah auf ihre Fußspitzen.

      »Du täuschst dich«, sagte sie nach einer Weile.

      »Das mag gut sein. Ich täusche mich in dir. – Sprich nicht weiter, du bist müde und willst ins Bett. – Ich komme immer mehr zu der Einsicht, daß mein Warten sinnlos war. Vielleicht ist jedes Warten im Leben sinnlos, aber ich weiß es nicht. Wenn man jung ist, hält man es nicht für möglich, daß man im Alter andere Ansichten hat. – Doch das will ich dir jetzt gar nicht sagen.«

      Er wich ihren Blicken aus und sah auf die breite Narbe über ihrem Ohr.

      »Hast du morgen Zeit?« fragte er nach einer Weile.

      »Ich weiß es nicht. Wir erwarten morgen Besuch vom Büro.«

      Da wandte sich Erkki wortlos um und ging hinaus. Die Hand, in der er den Beutel mit dem Werkzeug trug, war eingeschlafen. Sein Weg führte ihn eine nächtliche Straße hinab, an dem wie auf der Lauer liegenden Gasthaus von Roskow vorüber, über die kleine Holzbrücke und dann an dem engen Bach entlang. Auf dem häßlichen Stein saß der Mond und ruhte sich aus. Der Bach war energisch: er zwängte sich unermüdlich zwischen starken Kieferwurzeln hindurch, er riß, wenn er sich eingeengt fühlte, der Erde einen Fetzen ab, er schliff sich die Steine zurecht, damit sie seinen Lauf nicht hemmten, und diese große Mühe scheute er nicht, nur um sich einem zweifelhaften, lächerlichen Vergnügen hingeben zu können, dem Vergnügen, in einem großen See zu verschwinden, anonym zu werden und für alle Zeit ein unsichtbares Dasein zu führen.

      Erkki ging schnell, um die versäumte Zeit einzuholen. Er brauchte nur dem Bach zu folgen, um an sein Ziel zu gelangen. Der Bach floß durch eine Wiese, durch die Birkenschonung, durch den Kiefernwald und vereinigte sich neben der Lichtung mit dem See. Die Boote waren aus dem Wasser gezogen und lagen, mit dem Kiel nach oben, wie schlafende, große Tiere auf dem Sand.

      Erkki verharrte, als er vor der Lichtung stand, einen Augenblick im Schatten der Kiefern. Am Wasser saß ein Mann und blickte zu einer Insel hinüber, die sich im Licht des Mondes gespenstisch-fahl aus dem Wasser erhob. Eine Raubmöwe, die jemand beim Ausruhen gestört hatte, flog heiser schreiend aus dem Schilf, strich zweimal an der Lichtung vorbei, ließ sich auf einer Kiefer nieder und spähte aus rotgeränderten Augen auf den Mann am Wasser. Obwohl dieser Erkki den Rücken zukehrte, mußte er bemerkt haben, daß sich ihm jemand genähert hatte. Er sagte, ohne seinen Kopf zu wenden: »Na, komm schon her, was stehst du und siehst mir ins Genick … Ich habe dich längst kommen gehört … pünktlich bist du nicht, Erkki.«

      »Ich konnte nicht früher kommen«, sagte Erkki und trat aus dem Schatten. »Ein Lehrer ist ausgebrochen. Ich wollte gerade fortgehen, als die Miliz kam. Sie haben eine Haussuchung vorgenommen.«

      »So. – Hast du das Werkzeug mitgebracht?«

      »Ja.«

      »Die Boote müssen noch heute nacht fertig werden. Nimm dir ein Messer und kratze die Bordwände ab. Oder hast du Glasscherben da? Die eignen sich noch besser dafür.«

      »Nein«, sagte Erkki, »Glasscherben habe ich nicht mitgebracht. In der Aufregung dachte ich nicht daran.«

      Der Graue strich sich mit der Hand von hinten über den rasierten Schädel, ergriff ein Messer, prüfte die Schärfe der Schneide, indem er mit dem Daumen daran rieb, und ließ sich neben einem Boot mit dumpfem Laut auf die Knie nieder. Mit harten, zuckenden Bewegungen fuhr sein Messer über das Holz. Dabei verkniff er das Gesicht und fuhr mit seinem Kopf vor und zurück wie eine Eidechse mit ihrer Zunge.

      Nach einer Weile fragte Erkki: »Werden sie den Lehrer fangen?«

      »Ja. Vielleicht wird es nicht nötig sein.«

      »Wieso?«

      »Er wird sich selber fangen. Er wird Sicherheitsnetze auslegen, in denen er sich verstrickt.«

      »Glaubst du daran?«

      »Ich weiß es.«

      Beide Männer arbeiteten schweigend weiter. Erkki dachte: ›Ich werde nichts erzählen … Gott bewahre … erstens hat er mir nichts getan … zweitens will er ja auch leben … ich wußte doch gleich, daß ich ihn schon einmal gesehen hatte … er kann einem leid tun, obwohl er ein Mensch ist … weil er ein Mensch ist … Na, wenn Leo das bemerkt, schlägt er ihn tot, und wenn er erfährt, daß ich alles wußte, geht es mir nicht besser … aber … wie will … soll … er das erfahren? Das ist ausgeschlossen.‹

      Der Bürgermeister arbeitete schneller als Erkki, obschon er eine Hand ständig in Gebrauch hatte, um die Insekten abzuwehren. Während seine Rechte das Messer führte, schlug er mit der Linken auf den schweißglänzenden, muskulösen Nacken, vor die niedere Stirn, oder er griff schnell in die Luft und rieb seine Handfläche an der grauen Hose ab. Als sie fast fertig waren, sagte der Graue:

      »Hast du etwas Tabak in der Tasche? Die Insekten setzen mir so zu, diese langbeinigen Giftspritzer. Ich werde ihnen Dampf in die Rüssel blasen, das wird ihnen die Lust am Angriff nehmen.«

      »Ja, ich habe Tabak.«

      Erkki stand auf und ging zu dem anderen hinüber, der sich ebenfalls erhoben hatte und in seiner Hand eine Pfeife hielt.

      »Ist das guter Tabak?«

      »Ich weiß nicht«, antwortete Erkki.

      »Du weißt das nicht«, sagte der Graue lauernd. »Du weißt nicht, ob der Tabak gut oder schlecht ist? Na, gib ihn mal her.«

      Er stopfte sich seine Pfeife voll. Erkki hatte unterdessen sein Feuerzeug aus der Tasche gezogen und das kleine Rädchen mehrmals bewegt, bis der Funke an den Docht gesprungen und dieser aufgeflammt war. Die Flamme schwankte und warf spaßige Schattenfiguren auf ihre Gesichter, reckte sich wild hinauf und tanzte über der schmalen Öffnung, als der Graue, plötzlich, ohne die Pfeife in Brand gesetzt zu haben, heftig dagegen blies. Die Flamme verlosch. Erkkis Mund formte sich zu einer Frage, doch der Graue gab ihm zu verstehen, indem er einen breiten, am Nagel gespaltenen Finger auf die Strichlippen legte, daß ein lautes Wort nicht am rechten Platze sei. Die Raubmöwe schrie heiser auf und erhob sich von der Kiefer. Erkki bemerkte, daß die Hand des Bürgermeisters das Messer fest umschlossen hielt.

      »Ist da jemand?« zischte Erkki.

      »Still«, befahl der Graue und starrte in den dumpfen, nach Harz riechenden Schatten der Kiefern. Der Morgen lauerte schon feucht hinter den Bäumen und zwinkerte auffordernd dem Tau zu, der sich gewaltsam auf das Gras und auf die Büsche stürzte. Vögel begannen in ihrer Sprache zu reden, fingen mit der ewigen Liebhaberei an oder untersuchten Blätter und Äste, ob sich nicht irgendwo ein Frühaufsteher unter den Käfern hervorwage.

      Da drangen aus dem Wald Geräusche, als ob sich jemand gewaltsam durch das Unterholz fortbewegte. Das magere Knacken hinfälliger, abgelebter Äste schlug an die Ohren der beiden Männer. Einen Augenblick lang dachte Erkki, daß es vielleicht Stenka, der Lehrer, sein könne, der die Nacht dazu benutzte, um sich unbemerkt aus Pekö zu entfernen. Die Geräusche wurden immer deutlicher. Plötzlich fuhr sich der Graue mit der Hand von hinten über den rasierten Schädel und lachte laut auf: aus dem Schatten war ein sonderbarer, in eine völlig zerrissene Pelzjacke gekleideter Mann auf die Lichtung getreten. Blätter hatten sich an seiner Kleidung festgesetzt. Um den Pelz zusammenzuhalten, hatte der Eigentümer in Bauchnabel- und Brusthöhe eine Schnur um den Körper gewunden. Unter der Schnur waren mehrere fette Kalmuswurzeln eingeklemmt, die frisch gepflückt schienen, denn das Wasser tropfte noch

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