Es waren Habichte in der Luft. Siegfried Lenz

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Es waren Habichte in der Luft - Siegfried Lenz

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leise. »Warum sucht er ihn?«

      »Warum suchst du eigentlich deinen Bruder?« fragte der Graue laut den Alten. »Was willst du von ihm?« Er wischte sich mit der Hand von hinten über den rasierten Schädel.

      Der Alte unterdrückte ein Rülpsen, blickte auf seine schmutzigen, aufgerissenen Hände und erzählte, während seine Augen flackerten: »Als ich wegmußte, für zwölf Jahre, da sagte ich dem Bruder: Du könntest meiner Frau helfen. Sie ist allein, so allein wie ein Habicht, hihihi … Ich hatte damals gerade geheiratet. Mein Bruder zog zu der Frau, um ihr zu helfen. Das erfuhr ich aber erst, als ich schon fort war. – Ich war weit fort. Hinter dem Buckel der Welt. Aber meine Axt blieb zu Hause, die durfte nicht mit …

      Als ich zurückkam, wollte ich meiner Frau eine gelbe Schüssel mitbringen. Du mein Jesus, eine neue Schüssel … Die ist jetzt kaputt!«

      »Warum ist die Schüssel kaputt?« fragte der Bürgermeister belustigt.

      »Ich habe sie zerschlagen. Die Schüssel mußte sterben, meine Herren. Sie zersprang ohne großen Lärm. Plrrrr machte sie nur … Als ich zurückkam und in die Küche ging, da saß ein kleines Mädchen neben meiner Frau am Herd. Der Winter wird ihr das Kind nicht gebracht haben, dachte ich, der Winter bringt keine Kinder. ›Woher hast du das Mädchen?‹ schrie ich sie an. ›Von wem ist es?‹ Das Kind sah mich an und weinte. Die Frau jammerte: ›Von deinem Bruder!‹« …

      »›Wo ist mein Bruder?‹ schrie ich. ›Ich weiß es nicht‹, sagte sie. Da warf ich die Schüssel. Sie machte bestimmt nur pllrrrr, meine Herren. Ich wollte die Frau treffen, aber die trat zur Seite, und die Schüssel zersprang am Herd. Du mein Jesus, dicht am Kopf des kleinen Mädchens zersprang die Schüssel; ich sah noch, wie Blut über das Ohr lief. Schönes Blut. Es war nicht grün, es war rot. Rot wie die Augenränder der Raubmöwe.«

      Der Graue lächelte:

      »Und seitdem suchst du deinen Bruder, den Holzschiffer?«

      Petrucha nickte und zog seine Axt aus dem Beutel. Plötzlich heulte er auf und lief watschelnd in den Wald zurück, während das Lachen des Bürgermeisters ihn verfolgte.

      »Er ist wahnsinnig«, sagte der Graue nach einer Weile, »er ist vollkommen verrückt.«

      Erkki atmete hastig; die heulende Stimme des Alten klang noch in seinen Ohren.

      Das Morgengrauen wagte sich hervor, es war wie ein lautloser Angriff auf die Nacht. Die Nacht war wie ein Käfig ohne Ventilation. Das Morgengrauen schien Frischluft zu bringen.

      »Wir wollen gehen«, sagte der Graue. Er wartete, bis Erkki das Werkzeug zusammengesucht hatte, und starrte zur Insel hinüber.

      »Ob Roskow seinen Laden schon offen hat?«

      »Ich glaube schon, er wird heute kaum geschlafen haben.«

      »Warum?«

      »Die Miliz hat ihm die Tür eingeschlagen.«

      Der Bürgermeister grinste. »Um so besser. Dann kann ich mir gleich einen Schnaps holen. Hübsch, ganz hübsch!«

      Sie gingen am Bach entlang nach Pekö zurück. Als sie auf der kleinen Holzbrücke vor Roskows Gasthaus standen, war es taghell. Der Graue klopfte seine Schuhe am Geländer ab. Dabei fiel der Dreck in den Bach. Erkki sah ihm zu.

      »Am leichtesten kann sich der Mensch von seinen Fesseln befreien«, zitierte der Bürgermeister. Das hatte er irgendwo aufgeschnappt. Dann ging er zum Gasthaus hinüber und blieb unter einem gelben Emaille-Plakat stehen, auf dem eine Bierfabrik im Westen die Qualität ihres Getränkes anpries. Ein fetter Fünfzigjähriger mit blanker Stupsnase und gekämmtem Bart setzte gerade ein Glas an. Über das Schild lief eine Spinne. Der Graue wischte sie herunter und trat mit dem Absatz darauf.

      »Willst du nicht mit hineinkommen, Erkki?« fragte er.

      »Nein, Leo erwartet mich sicherlich schon.«

      An einem Fenster tauchte Roskows Kopf auf. Er betupfte mit einem Tuch seine Bartflechte und sah auf den Bürgermeister hinab. Als er bemerkte, daß dieser zu ihm hereinkommen wollte, verschwand er vom Fenster. Erkki befreite seine Schuhe von Erde und Lehm und ging allein weiter. Er brauchte niemand zu grüßen, denn um diese Zeit ließ sich kein Mensch auf der Straße sehen. Die Sonne kündigte sich bereits an, ihre ersten Strahlen schienen ihm auf den Rücken. Vor dem Gefängnis standen zwei Posten: einer knabberte an seinen Nägeln, der andere rauchte und umarmte sein Gewehr. Erkki blickte schnell hinüber zu den kleinen, vergitterten Fenstern; hinter manchen brannte noch eine zuverlässige elektrische Birne. In ihrem Licht bewegte sich dann und wann eine Gestalt. Aus der Entfernung sahen die Köpfe sonderbar aus, als ob sie präpariert worden wären, wie Schrumpfköpfe, die von manchen Wilden als Andenken an ihre Gegner aufgehoben werden. Als er den riesigen, braunen Schlüssel umdrehte, klackte es wieder. Die Tür zum Blumenladen war abgeschlossen. Demnach mußte Leo noch schlafen. Erkki fühlte sich totmüde. Er warf den Beutel mit dem Werkzeug vor den grünlichen, halbblinden Spiegel und stieg langsam die ächzende Treppe hinauf. Plötzlich prallte er zurück. Die Witwe war lautlos aus ihrem Zimmer getreten und hinderte ihn, die letzte Stufe zu nehmen. Offenbar hatte sie vergessen, die obere Hälfte ihres Kattunkittels zu schließen. Sie versperrte mit ihrem Körper den Weg und beugte sich zu Erkki hinab. Sie stützte sich mit einer Hand auf das Geländer und mit der anderen gegen die Wand. Ihre nackten Füße steckten in ausgetretenen Filzlatschen.

      »Ach, du bist es, Erkki«, winselte sie werbend und schob ihr Gesicht nah an das seine heran. Er sah sie gleichgültig an.

      »Was hast du eigentlich gegen mich«, fragte sie leise. »Verachtest du mich vielleicht?«

      »Vielleicht.«

      »Warum bloß? Um alles in der Welt, was habe ich dir denn getan? Komm, erzähl mir, was du gegen mich hast.« Sie gab den Weg frei.

      »Wenn ich nicht so müde bin und etwas mehr Zeit habe«, sagte Erkki, ließ sie stehen und verschwand in seiner Kammer. Das Fenster stand offen, Stenka lag mit verschränkten Armen auf dem Bett. Er atmete unregelmäßig und zuckte mit der Oberlippe, um eine Fliege zu verjagen. Die Fliege setzte sich auf den Spiegelscherben und kehrte nach einer Weile wieder zurück. Aus Stenkas Tasche war ein broschiertes Buch herausgefallen. Erkki buchstabierte: D.e.u.t.s.c.h.e G.r.a.m.m.a.t.i.k u.n.d S.p.r.a.c.h.l.e.h.r.e – Er schob das Buch vorsichtig in die Tasche des Schlafenden zurück und dachte: ›Von mir hat er nichts zu befürchten … um Gottes Willen … er hat mir ja nichts getan.‹

      Nebenan begann die Witwe unterdrückt zu weinen.

      Stenka schlug die Augen auf und sah Erkki verwirrt an. Dann richtete er sich mühsam auf und lächelte:

      »Du bist ja beinahe die ganze Nacht fortgewesen«, sagte er. »Willst du dich jetzt hinlegen?«

      Erkki schüttelte den Kopf.

      »Natürlich mußt du jetzt schlafen, du mußt sehr mü-

      de sein. Ich stehe auf.« Er erhob sich und trat an das Fenster.

      »Wo Leo nur bleibt?«

      »Er ist fortgefahren«, sagte Stenka, »noch gestern abend.«

      »Wohin?«

      »Nach Kalaa.«

      »Nach

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