Ganz für Familie. Erwin Sittig
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„Wo willst du eigentlich hin, Rotkäppchen?“
„Zu Oma“, antwortete sie kurz und hüllte sich dann in Schweigen.
Da kam dem Wolf eine Idee.
„Rotkäppchen“, säuselte er „siehst du nicht die herrlichen Pilze im Wald stehen? Vielleicht würde sich deine Oma darüber freuen, wenn du ihr ein paar davon mitbringst.“
Sie überlegte. Das ist gar keine schlechte Idee. Da Omas Verkaufsstelle geschlossen war, könnte es sein, dass sie das Konservenessen satthat und sich über frische Kost freut. Sie ließ den Wagen stehen und ging vom Wege ab, um die Pilze einzusammeln.
Darauf hatte der Wolf nur gewartet. Nachdem Rotkäppchen aus seinem Blickfeld verschwunden war, stürzte er sich sofort auf die Kiste Rotwein. Wenn er gewusst hätte, wie der Wein auf die Oma gewirkt hat, hätte er vielleicht die Pfoten davon gelassen. Doch er war dumm und wollte unbedingt an den Wein herankommen.
Vergeblich mühte er sich, die Weinflaschen aufzubekommen. Er hatte keinen Korkenzieher dabei und musste endlich einsehen, dass er allein mit seinen Zähnen nichts ausrichten kann.
Er beschloss, auf die Kleine zu warten.
Der Anblick der Flaschen ließ das Wasser in Strömen im Maul zusammenlaufen, so dass Rotkäppchen bei ihrer Ankunft einen stark sabbernden Wolf vorfand.
Sie setzte den Weg fort. Der Wolf folgte ihr.
„Wo wohnt eigentlich deine Großmutter“, fragte der Wolf.
Sie erzählte es ihm, damit sie ihre Ruhe hatte. Plötzlich hatte er es sehr eilig. Er verabschiedete sich und war blitzschnell verschwunden.
Rotkäppchen machte sich keine weiteren Gedanken darüber und zog weiter.
Der Wolf aber ahnte, dass die Oma einen Korkenzieher hat. Sonst würde ihr das Mädchen sicher keinen Wein bringen. Er beeilte sich, um noch vor Rotkäppchen dort anzukommen.
Der Wolf klopfte an ihre Tür.
„Wer ist da“, rief die Großmutter.
„Ich bin es, das Rotkäppchen“, antwortete er.
„Du bist nicht Rotkäppchen, die hat eine viel lieblichere Stimme.“
Der Wolf überlegte. Was könnte die Oma dazu bewegen, die Tür zu öffnen?
„Ich habe Wein mitgebracht“, säuselte er.
Als die Oma hörte, dass ihr geliebter Rotwein endlich da war, vergaß sie sofort, dass die Stimme nicht Rotkäppchen gehörte. Schnell stand sie auf und öffnete ihm. Der Wolf trat ein und schlang sie, ohne ein Wort zu sagen, mit einem Happs hinunter. Er hatte zwar keinen Appetit auf Omas, aber um an den Wein heranzukommen, musste er die Großmutter verstecken, denn jeden Moment würde Rotkäppchen hier sein. Das sicherste Versteck war sein Bauch.
Er legte sich ins Bett der Großmutter, setzte ihre Nachtkappe und ihre Brille auf und wartete auf Rotkäppchen.
Kurze Zeit später klopfte es an der Tür.
„Komm rein Rotkäppchen, die Tür ist offen“, krächzte der Wolf.
Sie wusste, dass die Oma sie erwartet, und betrat unbesorgt die Stube.
Sie trat ans Bett und schaute sich ihre Oma in Ruhe an. Sie war kaum wiederzuerkennen.
Schrecklich, was der Alkohol aus einem Menschen machen kann, dachte Rotkäppchen, der die Probleme der Oma bekannt waren.
Doch da sie sich nicht so recht an den Anblick gewöhnen konnte, nervte sie die Oma mit ein paar Fragen.
„Großmutter, warum hast du so eine tiefe Stimme?“ „Meine Kehle ist so rau, weil schon lange kein Wein mehr im Haus ist.“
„Aber Großmutter, warum hast du so einen dicken Bauch?“
Er war wirklich sehr auffällig, zumal die Oma im Bauch des Wolfes zu zappeln begann, weil es so ungemütlich war.
Der Wolf antwortete: „Damit der Wein in mich hineinpasst, den du mir mitgebracht hast.“
„Und warum hast du so große Augen, Großmutter?“, fuhr Rotkäppchen fort.
„Damit ich die Etiketten auf den Flaschen besser lesen kann“.
„Und warum hast du so ein dickes Fell?“
„Weil meine Mutter mit mir immer so viel geschimpft hat“.
„Aber Großmutter, warum hast du so große Ohren?“
„Damit meine Brille nicht herunterfallen kann.“
„Warum hast du aber so eine entsetzlich große Nase?“
„Damit ich besser popeln kann“, antwortete der Wolf und lachte sich über seinen Witz kaputt.
Dabei kamen seine Pfoten zum Vorschein.
„Omilein, warum hast so komische Hände?“.
„Damit ich dich besser packen kann“, rief er und hielt das arme Rotkäppchen mit seinen Krallen fest. Jetzt fiel ihr auch der seltsame Mund auf und sie fragte ängstlich:
„Warum hast du aber so eine entsetzlich, großes Maul?“
„Das sagt man aber nicht zu seiner Großmutter“, erwiderte der Wolf.
„Dafür fresse ich dich jetzt.“
Und er riss seine Schnauze auf und stopfte auch noch das Rotkäppchen hinein.
Im Bauch begann ein großes Gezeter.
„Aua, pass doch auf, wo du hintrittst“, schimpfte die Großmutter.
„Entschuldige Omi“, sagte Rotkäppchen „kannst du nicht mal Licht machen?“
Dem Wolf war egal, was sich die beiden zu erzählen hatten. Ihn interessierte jetzt nur noch der Wein. Er suchte sich den Korkenzieher heraus, öffnete eine Flasche und trank sie in einem Zuge aus.
Im Bauch hörte man wieder Geschrei:
„Igitt, was soll denn die Schweinerei?“
Der Wein wirkte langsam und er wurde müde. Er legte sich ins Bett und fing fürchterlich an, zu schnarchen.
Der Förster kam vorbei und hörte die ungewöhnlichen Geräusche. Er wollte nach dem Rechten sehen und trat ein, weil auf das Klopfen niemand reagierte.
Als er zum Bett kam, bemerkte er auch das komische Aussehen der Alten.
„Bist du es, Großmutter?“, rief er.
Aus dem Bauch antwortete eine Stimme: „Kannst du mich etwa sehen?“
„Aber selbstverständlich sehe ich dich“, erwiderte