Gesammelte Weihnachtsgeschichten. Charles Dickens
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Читать онлайн книгу Gesammelte Weihnachtsgeschichten - Charles Dickens страница 6
„Ich will meine neuen roten Schuhe anziehen“, sagte sie eines Morgens, „die, welche Karl nie gesehen hat, und dann will ich zum Flusse hinunter gehen und diesen nach ihm fragen!“
Es war noch ganz früh, sie küsste die alte Großmutter, welche noch schlief, zog die roten Schuhe an und ging ganz allein aus dem Stadttore nach dem Flusse.
„Ist es wahr, dass du meinen kleinen Spielkameraden genommen hast? Ich will dir meine roten Schuhe geben, wenn du mir ihn wiedergeben willst!“
Und es war, als nickten die Wogen sonderbar; da warf sie ihre roten Schuhe, das, was sie am liebsten hatte, und warf sie beide in den Fluss hinaus, aber sie fielen dicht an das Ufer, und die kleinen Wellen trugen sie ihr wieder an das Land. Es war, als wollte der Fluss das Liebste, was sie hatte, nicht nehmen, weil er den kleinen Karl ja nicht hatte. Gretchen aber glaubte nun, dass sie die Schuhe nicht weit genug hinausgeworfen habe, und so kroch sie in ein Boot, welches im Schilfe lag, ging ganz an das äußerste Ende desselben und warf die Schuhe von da aus in das Wasser. Aber das Boot war nicht festgebunden, und bei der Bewegung, welche sie verursachte, glitt es vom Lande ab; sie bemerkte es und beeilte sich fortzukommen, aber ehe sie zurückkam, war das Boot über eine Elle vom Lande, und nun trieb es schneller von dannen.
Da wurde das kleine Gretchen ganz erschrocken und fing an zu weinen; aber Niemand außer den Sperlingen hörte sie, und die konnten sie nicht an das Land tragen, aber sie flogen längs dem Ufer und sangen gleichsam, um sie zu trösten: „Hier sind wir, hier sind wir!“ Das Boot trieb mit dem Strome; das kleine Gretchen saß ganz still in den bloßen Strümpfen; ihre kleinen roten Schuhe trieben hinterher, aber sie konnten das Boot nicht erreichen, das hatte stärkere Fahrt.
Hübsch war es an beiden Ufern, schöne Blumen, alte Bäume und Abhänge mit Schafen und Kühen, aber nicht ein Mensch war zu erblicken.
„Vielleicht trägt mich der Fluss zu dem kleinen Karl hin!“ dachte Gretchen und da wurde sie heiter, erhob sich und betrachtete viele Stunden die schönen grünen Ufer; dann gelangte sie zu einem großen Kirschgarten, worin ein kleines Haus mit sonderbar roten und blauen Fenster war, übrigens hatte es ein Strohdach und draußen waren zwei hölzerne Soldaten, die vor den Vorbeisegelnden das Gewehr schulterten.
Gretchen rief nach ihnen; sie glaubte, dass sie lebend seien, aber sie antworteten natürlich nicht; sie kam ihnen ganz nahe, der Fluss trieb das Boot gerade auf das Land zu.
Gretchen rief noch lauter, und da kam eine alte, alte Frau aus dem Hause, die sich auf einen Krückenstock stützte; sie hatte einen großen Sonnenhut auf, und der war mit den schönsten Blumen bemalt. „Du kleines armen Kind!“ sagte die alte Frau. „Wie bist du doch auf den großen reißenden Strom gekommen und weit in die Welt hinaus getrieben?“ und dann ging die alte Frau an das Wasser, erfasste mit ihrem Krückenstock das Boot, zog es an das Land und hob das kleine Gretchen heraus.
Diese war froh, wieder auf das Trockene zu gelangen, obgleich sie sich vor der alten Frau ein wenig fürchtete.
„Komm doch und erzähle mir, wer du bist, und wie du hierher kommst!“ sagte sie.
Gretchen erzählte ihr Alles; und die Alte schüttelte mit dem Kopfe und sagte: „Hm! Hm!“ und als ihr Gretchen Alles gesagt und gefragt hatte, ob sie nicht den kleinen Karl gesehen habe, sagte die Frau, dass er nicht vorbeigekommen sei, aber er komme wohl noch, sie solle nur nicht betrübt sein, sondern die Kirschen kosten, ihre Blumen betrachten, die seien schöner als irgend ein Bilderbuch, eine jede könne eine Geschichte erzählen. Da nahm sie Gretchen bei der Hand, sie gingen in das kleine Haus hinein, und die alte Frau schloss die Türe zu.
Die Fenster lagen sehr hoch und die Scheiben waren rot, blau und gelb, und das Tageslicht schien ganz sonderbar herein; aber auf dem Tische standen die schönsten Kirschen, und Gretchen aß davon so viel sie wollte, denn das war ihr erlaubt. Während sie speiste, kämmte die alte Frau ihr Haar mit einem goldenen Kamme, und das Haar ringelte sich und glänzte herrlich gelb rings um das kleine freundliche Antlitz, welches rund war und wie eine Rose aussah.
„Nach einem so lieben kleinen Mädchen habe ich mich schon lange gesehnt!“ sagte die Alte. „Nun wirst du sehen, wie gut wir mit einander leben werden!“ und so wie sie dem kleinen Gretchen die Haare kämmte, vergaß diese mehr und mehr ihren Kameraden Karl, denn die alte Frau konnte zaubern, aber eine böse Zauberin war sie nicht. Sie zauberte nur ein Bisschen zu ihrem eigenen Vergnügen, und wollte gern das kleine Gretchen behalten. Deshalb ging sie hinaus in den Garten, streckte ihren Krückstock gegen alle Rosensträucher aus, und wie schön sie auch blühten, so sanken sie alle in die schwarze Erde hinunter, und man konnte nicht sehen, wo sie gestanden hatten. Die Alte fürchtete, dass Gretchen, wenn sie die Rosen erblickte, an ihre eignen denken, sich dann des kleinen Karl erinnern und davonlaufen würde.
Nun führte sie Gretchen in den Blumengarten. Was war da für ein Duft und eine Herrlichkeit! alle nur denkbaren Blumen, für jede Jahreszeit, standen hier in der prächtigsten Blüte; kein Bilderbuch konnte bunter und hübscher sein. Gretchen sprang vor Freude, und spielte, bis die Sonne hinter den hohen Kirschbäumen unterging, dann bekam sie ein schönes Bett mit roten Seidenkissen, die mit Veilchen gestopft waren, und sie schlief und sie träumte da so herrlich, wie nur eine Königin an ihrem Hochzeitstage. Am nächsten Tage konnte sie wieder mit den Blumen im warmen Sonnenschein spielen. So verflossen viele Tage. Gretchen kannte jede Blume, aber wie viele es auch waren, so war es ihr doch, als ob eine fehlte, aber welche, das wusste sie nicht. Da sitzt sie eines Tages und betrachtet den Sonnenhut der alten Frau mit den gemalten Blumen, und gerade die schönste darunter war eine Rose. Die alte hatte vergessen, diese vom Hute wegzuwischen, als sie die anderen in die Erde verbannte. Aber so ist es, wenn man die Gedanken nicht immer gesammelt hat! „Was!“ sagte Gretchen, „sind hier keine Rosen?“ und sprang zwischen die Beete, suchte und suchte, aber da war keine zu finden. Da setzte sie sich hin und weinte; aber ihre Tränen fielen gerade auf eine Stelle, wo ein Rosenstrauch versunken war, und als die warmen Tränen die Erde benetzten, schoss der Strauch auf einmal empor, so blühend, als er versunken war, und Gretchen umarmte ihn, küsste die Rosen und gedachte der herrlichen Rosen daheim und mit ihnen auch des kleinen Karl.
„O, wie bin ich aufgehalten worden!“ sagte das kleine Mädchen. „Ich wollte ja den kleinen Karl suchen! – Wisst ihr nicht, wo er ist?“ fragte sie die Rosen. „Glaubt ihr, er sei tot?“
„Tot ist er nicht,“ sagten die Rosen. „Wir sind ja in der Erde gewesen, dort sind alle die Toten, aber Karl war nicht da!“ „Ich danke euch!“ sagte das kleine Gretchen, und sie ging zu den anderen Blumen hin, sah in deren Kelch hinein und fragte: „Wisst ihr nicht, wo der kleine Karl ist?“
Aber jede Blume stand in der Sonne und träumte ihr eigenes Märchen oder Geschichtchen, davon hörte Gretchen viele, viele, aber keine wusste etwas von Karl.
Und was sagte denn die Feuerlilie?
„Hörst du die Trommel? Bum! Bum! Es sind nur zwei Töne, immer Bum! Bum! Höre der Frauen Trauergesang! Höre den Ruf der Priester! – In ihrem langen roten Mantel steht das Hinduweib auf dem Scheiterhaufen, die Flammen lodern um sie und ihren toten Mann empor. Aber das Hinduweib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Augen heißer als die Flammen brennen, an ihn, dessen Augenfeuer ihr Herz stärker berührt, als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Kann die Flamme des Herzens in der Flamme des Scheiterhaufens ersterben?“
„Das verstehe ich durchaus nicht!“ sagte das kleine Gretchen.
„Das ist mein Märchen!“ sagte die Feuerlilie.
Was sagt die Winde?
„Über