Du bist ok, so wie du bist. Katharina Saalfrank

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Du bist ok, so wie du bist - Katharina Saalfrank

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von Gefühlen kennenzulernen. Wir brauchen also auch Erfahrungen mit den sogenannten negativen Gefühlen: Trauer, Enttäuschung, Schmerz, Wut, Aggression. Es ist wichtig, dass wir sie erfahren, dass wir sie verbalisieren und sie ausdrücken können.

      Vielfältige wissenschaftliche Studien belegen, dass das Verleugnen und Wegdrücken von Gefühlen den Menschen krank macht. Aber Menschen können Aggressionen doch nicht einfach ungefiltert ausagieren, wird der eine oder andere einwenden. Der Begriff »Aggression« ist von dem lateinischen Wort für »herangehen, angreifen« abgeleitet. Aggressionen an sich sind wichtig, sie bringen uns zu Hochleistungen, etwa im Sport. Wer beispielsweise bei den Olympischen Spielen die Sportler in Zeitlupenwiedergabe genau beobachtet, kann erkennen, wie sich Aggressivität in den Gesichtern spiegelt und in Energie verwandelt, die den Athleten nach vorn bringt. Dass aggressives Verhalten von Kindern häufig falsch interpretiert wird, liegt an folgenden Gedanken:

       Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, Aggressivität führe unweigerlich zu Gewalt. Deshalb meint man, Kinder sollten schon frühzeitig lernen, Konflikte ausschließlich verbal zu klären. Dies bedeutet für sie jedoch häufig eine absolute Überforderung. Für eine solche Konfliktlösung müssten sie sehr früh schon eine intellektuelle Leistung erbringen, die oft auch uns Erwachsenen schwerfällt.

       Wir denken und handeln so jedoch nur aus der absurden Befürchtung, dass aus einem aggressiven vierjährigen Jungen zwangsläufig ein gewalttätiger Jugendlicher wird. Die Kausalkette so zu knüpfen beruht auf einem Fehlschluss. Denn nicht aggressives Verhalten in der Kindheit ist ursächlich für spätere Gewalttätigkeit von Jugendlichen. Vielmehr, das zeigen zahlreiche Untersuchungen, haben gewalttätige Jugendliche fast ausnahmslos in ihren Familien psychische oder physische Gewalt erfahren und waren häufig selbst Opfer.

      Emotionen in ihrer ganzen Bandbreite anerkennen

      Es gibt nicht nur eine Angst oder die Aggression. Gefühle treten in vielen Abstufungen und Färbungen auf. Unsere Gefühlswelt ist komplex, und jedes Gefühl hat verschiedene Facetten. Es gilt, alle Emotionen im Laufe der Zeit kennenzulernen, Erfahrungen im Umgang mit ihnen zu sammeln und sie letztendlich sämtlich in uns zu integrieren. Dieser Prozess beansprucht rund sechzehn bis siebzehn Jahre – dauert also bis zur Pubertät – und gehört zur normalen seelisch-emotionalen Entwicklung von Kindern.

      Linus macht also wesentliche Erfahrungen in seiner emotionalen Entwicklung. Doch anstatt ihn sich auch körperlich auseinandersetzen zu lassen, ihn kindgerecht beim Umgang mit Konflikten zu unterstützen und in seiner Entwicklung zu begleiten, wird das unerwünschte Verhalten weggedrückt, und das störende Kind soll die Gruppe verlassen.

      Wir erkennen »Normalität« nicht!

      Linus ist kein Einzelfall. Immer wieder wird ein völlig entwicklungsgerechtes Verhalten nicht richtig eingeordnet, sodass Eltern in eine ähnliche Verunsicherungsspirale geraten wie die Mutter von Linus: Eltern wird suggeriert, ihr Kind verhalte sich auffällig, also nicht normal. Die Eltern erschrecken, vor allem, wenn sie unerfahren sind. Sie überlegen, wie sie das Verhalten ihres Kindes so beeinflussen können, dass es wieder als »normal« wahrgenommen wird.

      Sanktionen und Medikamente

      Verunsicherung ist an sich nichts Schlechtes, sie gehört sogar unbedingt zum Elternsein. Solche Empfindungen machen es überhaupt erst möglich, dass wir uns auf unsere Kinder einstellen, dass wir dynamisch und beweglich bleiben. Wenn jedoch nichts als Hilflosigkeit und das Gefühl, man habe versagt, bei den Erwachsenen zurückbleibt, dann ist es nur zu verständlich, dass sie vermeintlich hilfreichen Ratschlägen folgen: Wir Erwachsenen dürfen uns das Ruder nicht aus der Hand nehmen lassen! Wir müssen doch immer wissen, wo es langgeht! Schnell geht es dann zurück ins alte Muster: Strafe wird wieder ein probates Mittel im Umgang mit Kindern. Kindliche Handlungen und Verhaltensweisen, die nicht erwünscht sind, werden sanktioniert.

      Und wenn sich Eltern nicht mehr selbst zu helfen wissen, nehmen sie heute ganz selbstverständlich psychiatrisch-ambulante Hilfe in Anspruch und überlassen den vermeintlichen Experten das Feld. Diese Kinder- und Jugendpsychiater, -psychologen und -ärzte hatten in den vergangenen Jahren viel zu tun.

      So kritisieren, maßregeln und therapieren wir unsere Kinder, um sie für unser (Erwachsenen-)Leben und unsere Gesellschaft passend zu machen. Dass die Gründe für ihr Verhalten, wenn es unseren Vorstellungen nicht entspricht, von uns selbst geschaffen sind, ziehen wir nicht in Betracht. Es ist deshalb nur scheinbar ein Fortschritt, wenn wir Verhaltensauffälligkeiten und Konzentrationsstörungen von Kindern therapieren lassen. Das Verhalten von Kindern zu pathologisieren, ist die extremste Ausprägung von Erziehung.

      Blinde Flecken

      Ist es nicht seltsam, dass laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts mittlerweile jedes fünfte Kind in Deutschland als verhaltensauffällig gilt? Wieso stutzen wir nicht, wenn wir hören, dass die Zahl der ADHS-Diagnosen innerhalb von 20 Jahren drastisch angestiegen und derzeit nur leicht rückläufig ist? Selbst dass immer wieder von Ärzten diskutiert wird, ob es sich hier nicht um eine »konstruierte Krankheit« handle, lässt kaum aufhorchen. Genauso wenig wie die immer wieder aufgeworfene Frage, ob das Diagnostizieren dieser »Krankheit« – die fast ausschließlich medikamentös, kaum therapeutisch behandelt wird – nicht vor allem der Pharmaindustrie dient.

      Man könnte die Aufzählung solcher blinden Flecken lange fortführen: Macht es uns nicht skeptisch, dass Diagnosen häufig beliebig, nach Gutdünken des jeweiligen Arztes und aufgrund einer Handvoll oft recht unklarer Symptome, die Eltern aus ihrer Sicht von zu Hause und aus der Schule berichten, gefällt werden? Warum lässt es uns nicht aufmerken, dass ADHS besonders häufig bei extrem früh eingeschulten Kindern auftritt? »Aufmerksamkeitsdefizite« muss man hier wohl eher uns Erwachsenen attestieren. Schauten wir genauer hin, ergäben sich interessante Fragen. Etwa, ob eine frühe Einschulung entwicklungspsychologisch überhaupt sinnvoll ist und ob wir hiermit nicht selbst unsere Kinder überfordern? Doch offenbar sind wir noch nicht bereit, unseren Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft grundsätzlich zu hinterfragen.

      FAMILIE UND ERZIEHUNG

      Die Familienformen und damit auch das Familienleben haben sich in den letzten Jahrzehnten enorm verändert. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Partnerschaften werden heute um ihrer selbst willen und auf einer emotionalen Basis gegründet. Die Qualität der Beziehung steht im Vordergrund. Wenn diese für die Partner nicht mehr zufriedenstellend ist, gehen Beziehungen (und damit auch Familien) auseinander. Das war noch vor siebzig Jahren anders – ob auch besser, sei dahingestellt. Heutzutage finden sich zudem neue Partnerschaftsformen, Patchworkfamilien und damit ein vielfältiges Geflecht an Beziehungen und familiären Verknüpfungen. Auch haben sich die Rollen innerhalb der Partnerschaft gewandelt. Die Berufstätigkeit der Frau ist heute Normalität und oft zur Sicherung der Existenz notwendig geworden. Der Mann ist nicht mehr der Alleinverdiener. Auch die Bedeutung von Kindern für eine Partnerschaft und der Grad der Aufmerksamkeit, die man ihnen zukommen lässt, haben sich verändert.

      »Von eigener Erziehungserfahrung geprägt – oft keiner guten –, sind sich Eltern heute zumeist darüber einig, dass sie es anders machen wollen, als sie es selbst erlebt haben.«

      Die am eigenen Leib erfahrenen Kränkungen und Verletzungen wollen junge Eltern ihren Kindern unbedingt ersparen. Kinder brauchen Liebe, Verständnis und Wärme. Sie brauchen aber doch auch – so heißt es überall – klare Regeln und Grenzen. Zwischen diesen Polen schwanken die Eltern. Und je herausfordernder sich der Familienalltag gestaltet, desto verführerischer ist es, sich in kurzfristig wirksame autoritäre Methoden zu flüchten. Kinder sollen und müssen funktionieren, auch Eltern haben nur begrenzte

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