ATEMZUG. Eveline Keller
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Die Ausstattung war in weißer Farbe gehalten und an den Wänden prangten große, in naiver Malerei abgebildete Szenen der Entstehungsgeschichte der Glaubensgemeinschaft. Sie zeigten, wie die weiße Orchideenblüte vom Gründer entdeckt wurde und wie er durch deren Kraft eine Erleuchtung erlebte.
Im geräumigen, halbrunden Tempelraum war die Decke bemalt mit den Visionen für den Eintritt ins Paradies. Der Weg dahin bedingte jedoch, dass vorher die Menschheit ausgelöscht wurde.
Die Soeur Detonation hatte den heiligen Auftrag, den Ungläubigen die Unabwendbarkeit des Weltunterganges vor Augen zu führen.
An diesem Abend kamen die Gläubigen wie erwartet zahlreich, so dass der Tempel bis zum letzten Platz besetzt war. Sie warteten ergeben in ihren langen Gewändern aus glänzender weißer Seide. Die eigentümliche Bekleidung am Rücken geschlitzt, ähnlich wie ein Krankenhaushemd.
Als der Führer und Prophet begleitet von seinem Gast eintrat, ging ein Raunen durch den Saal. Er begrüßte die Phalaenopsisten, stellte ihnen die Soeur Detonation. Sie beteten gemeinsam und baten um Erlösung von ihren irdischen Sorgen. Zur Messe kamen die Ordensmitglieder mit nüchternem Magen und reinigten sich in den nach Geschlechtern aufgeteilten Räumen, abwechselnd mit Dampfbädern und kalten Abgüssen. Gesäubert wurde wiederum um Erleuchtung gebeten, mit deren Hilfe sie ins Paradies eingelassen wurden.
»Meine lieben Brüder und Schwestern, bald ist es soweit, dass wir erlöst in unser Paradies eintreten können. Darum rufe ich euch auf: Entbindet euch von euren irdischen Gütern und Verpflichtungen. Denkt daran: Der Samen der heiligen Orchidee hat einen mühseligen Weg hinter sich, bis er bei uns eintrifft. Um unseren Bedarf decken zu können, benötigen wir Spenden von jedem von euch. Besonders hervorgetan dabei hat sich unser Bruder Thaddäus, dem wir herzlich für seine Großzügigkeit danken. Nehmt euch ein Beispiel an ihm. Mit seiner großzügigen Spende wurde es unserem Orden erst möglich, uns die Unterstützung der Soeur Detonation zu sichern. Mit ihrer Hilfe werden wir dem Paradies einen entscheidenden Schritt näherkommen.«
»Denn denkt daran, wenn wir euch zu wenig Samen der Phalaeonpsis abgeben können, wird der Übertritt in die neue Welt sehr viel schmerzlicher sein. Darum nehmt den Samen, lasset ihn in euch wachsen und betet um Erleuchtung.«
Die Gläubigen murmelten einen Dank. Anschließend löste sich einer nach dem anderen aus der Reihe, zog die Enden seines Gewandes auseinander, kniete nieder und ließ sich den Samen einführen. Derart bereichert, mit einem sanften Lächeln begaben sie sich dann in einen der Räume. Dort im dezenten Licht legten sie sich auf Liegestühle und oder Matten und gaben sich ihren Träumen hin, wie es sein wird, wenn sie das Paradies gelangen würden.
3.
Nach der düsteren, dumpfen Nacht strahlte die Sonne triumphierend vom tiefblauen Himmel, als wollte sie alle dunklen Ecken und üblen Machenschaften ausleuchten. Ihre Verbündete war die Putzmaschine, die sich durch die verzweigten Straßen arbeitete und eine saubere, dampfende Kriechspur zurückließ. Ein sommerliches Lüftchen säuselte um die Häuserzeilen und es roch irgendwie nach Ferien, Meer und Strand in Rimini.
Harry war wie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit und pfiff von der Stimmung mitgerissen eine muntere Melodie. Ach Urlaub! Es war ewig her, seit er das letzte Mal in der Sonne gefaulenzt hatte? Aus einem Impuls heraus, schaute er sich um, und war für einen Moment von dem Anblick gefangen, der sich ihm bot. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite stand eine Frau und zog an ihren Strümpfen. Dabei schien die Sonne durch ihr Kleid, sodass ihre Silhouette und ihre perfekten Rundungen im Gegenlicht sichtbar geworden waren.
Venus lebt! Dachte er und sog fasziniert das Bild in sich auf. Mit den Augen der Fremden zugewandt, lief er weiter und geradewegs gegen eine Verkehrstafel. Es schepperte. Derart unsanft gestoppt, rieb er sich den schmerzenden Teil, wo sich eine Beule entwickelte.
Die Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite hob nervös den Kopf. Verbissen zerrte sie an einem Strumpf, um ihn festzumachen. »Geschieht dem Spanner recht!«, zischte sie. Liz Bardi hatte es an diesem Morgen eilig. Doch die verflixten Nylons hielten sie immer wieder auf. Die hochgepriesenen, festsitzenden, superkomfortablen Wunderdinger, mit dem unsichtbaren Haftband, das garantiert klebt, erfüllten die windigen Werbeversprechen nicht und rutschten bei jedem Schritt etwas tiefer. Sie befürchtete, dass sie, wenn sie mal die Mitte ihres Oberschenkels überschritten hatten, haltlos zu Boden segelten. Sie stände da wie Pippi-Langstrumpf. Das wäre peinlich für eine Leiterin der Unterwäscheabteilung und ging gar nicht.
Genervt zog sie an der Gummihaftverstärkung und griff diesmal durch den Kleiderstoff hindurch, um kein weiteres Aufsehen zu erregen. Sie schwor dem Strumpfvertreter bei seinem nächsten Besuch, die Strümpfe mit Doppelknoten, um den Hals zu knüpfen, bis er blau anlief.
Hoffend, dass die Dinger für die nächste halbe Meile hielten, richtete sie sich eilig auf und griff nach ihrer Handtasche. Sie fasste ins Leere. Sie war weg! Suchend schaute sie sich um, aber sie war nirgends zu entdecken. Ohnmacht schnürte ihr den Hals zu. Tränen schossen ihr in die Augen. Das durfte nicht sein! Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Und der doofe Typ auf der anderen Seite grinste auch noch.
Wütend setzte sie über die Straße. Harry hatte sich inzwischen gefasst und war stehengeblieben, als er sah, dass die Frau auf ihn zukam. Doch anstelle eines zuckersüßen Hallos verpasste sie ihm eine Ohrfeige.
»Sie blöder Kerl! Ihretwegen ist mir die Tasche geklaut worden«.
Harry war sekundenlang sprachlos. Ein für ihn ungewohnter Zustand. Dann brüllte er: »Sind sie nicht ganz dicht? Sie - Exhibitionistin. Bin ich schuld, wenn sie auf offener Straße ihre Show abziehen?«
Das war so unerhört laut, Liz hatte Ohrensausen. Geschockt zog sie den Kopf zwischen die Schultern. Und auf ihrem Gesicht macht sich Verzweiflung breit. »Haben sie wenigstens gesehen, wer es war?«
»Natürlich. Ein flinker Kerl stahl sie, während ihrer Vorstellung«, zischte er.
»Warum haben Sie mich nicht gewarnt?«
Harry hielt sich leicht verlegen an der Verkehrstafel: »Die da hat mich abgehalten.«
Er zeigte in die Richtung, in die der Dieb verschwunden war. »Wenn sie sich beeilen, holen sie ihn vielleicht noch ein.« Sein Blick glitt ihren langen Beinen entlang und blieb an ihren Stöckelschuhen hängen. Damit dürfte eine Verfolgung schwierig werden.
»Vielleicht hat er nur das Portemonnaie ausgeräumt und sie finden die Handtasche im nächsten Mülleimer wieder.«
Doch statt sie zu motivieren, dämpfte diese Bemerkung Liz' Enthusiasmus. Wenn der Dieb Geld suchte, hatte er bestimmt auch die sechs Tausender, die sie ihrem Ex-Mann bringen sollte, aus der Tasche gemopst. Was für eine Katastrophe! Ausgerechnet heute. Als hätte er gewusst, was sich darin befand. Warum hatte sie nicht besser aufgepasst?
Für sie war es unmöglich, eine solche Summe ein zweites Mal zu beschaffen. Würden ihre Kinder trotzdem sicher sein? Fragen über Fragen stürzten auf sie ein. Alles begann sich um sie herum zu drehen, und wirkte seltsam verzerrt.
Besorgt sah Harry, wie Liz aufgeregt nach Luft schnappte und japste. Er versuchte sie zu beruhigen. »Langsam! Nicht so hastig. Immer mit der Ruhe. Nicht so schnell, laangsssaaam!«
Zu spät! Schon verdrehte sie die Augen und kippte auf ihn zu. Warum er? Die Undankbare!