ATEMZUG. Eveline Keller
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Da bemerkte sie aus dem Augenwinkel, wie sich der Dieb von der Menschengruppe absetzte.
Na warte! Dachte Liz, Du entwischst mir nicht so leicht.
3M, ausgesprochen 'Drei-em' war ein Kleinkrimineller. Ladendiebstahl und Einbrüche waren sein Lebensinhalt. Sein eigentümlicher Spitzname wurde ihm verliehen, weil man bei ihm wie in einem Super-Multimarkt aus einem breiten Sortiment geklauter Ware auswählen konnte und ebenso günstig. Nachdem sein Verfolger verhaftet wurde, hatte sich 3M von der Gruppe gelöst, und hielt alles auf seiner Minikamera fest.
Es würde ein Spaß sein, sich die Szene anzusehen. Ihn faszinierte es was um ihn herum geschah aufzuzeichnen und immer wieder abspielen zu können. Er hatte bereits eine ganze Sammlung solcher Filme auf CD gespeichert. Zufrieden steckte er danach sein Spielzeug ein und ging ungestört weg.
Liz beeilte sich, den Dieb einzuholen, und eine Hausecke weiter stellte sie ihn. Sie hielt ihn am Arm fest und griff nach ihrer Handtasche: »Das ist meine. Gib her!«
3M stieß sie weg. Seine Augen schielten in die Runde, ob jemand den Zwischenfall bemerkt hatte. Keiner da. Also gab er Fersengeld.
Liz folgte ihm. In ihren hohen Absätzen hatte sie keine Chance, aber sie blieb hartnäckig an ihm dran. Sie hoffte, dass sich ihr eine Gelegenheit bot, ihm die Tasche zu entreißen.
Doch der Abstand vergrößerte sich und als er eine weitere Ecke passiert hatte, war er aus dem Blickfeld verschwunden. Wie sie schimpfend auf die Schuhmacher, die Hitze und die ungerechte Welt, kurz darauf dort ankam, war er nirgends mehr zu sehen. Verdammt, hatte sich denn alles gegen sie verschworen! Sie hatte ihre Kleider durchgeschwitzt, war außer Atem und ihre Füße quälten sie von der Rennerei so sehr, dass sie eine Axt herbeisehnte, um sie abzuhacken.
Aufgeben war nicht ihre Art, aber hier blieb ihr nichts anderes übrig. Zudem musste sie zur Arbeit, es war schon spät. Noch nie war sie so bodenlos enttäuscht und ebenso wütend gewesen. Am liebsten hätte sie sich in eine Grube geworfen und wäre für den Rest ihres Lebens tot gewesen. Nur, das stand außer Frage. Sie hatte zwei Jungs, die sie niemals allein lassen würde.
Auf dem Weg zum Warenhaus, wo sie arbeitete, zerbrach sie sich den Kopf und suchte nach einem Ausweg, um das drohende Unglück abzuwenden. Wenn sie das Geld nicht schnellstens wiederbeschaffte, würde sie ihre Stelle verlieren. Und wer wusste, was sich ihr Ex-Mann Arnie noch alles ausdachte, um sie zu erpressen. Sie hatte zwei Möglichkeiten: Entweder sie meldete sich krank, floh außer Landes und begann ein neues Leben an einem anderen Ort. Oder sie beichtete alles ihrer Chefin, die sie fristlos entlassen würde. Keine der Varianten überzeugte sie. Sie konnte mit ihren zwei schulpflichtigen Kindern nicht plötzlich verschwinden. Die Großeltern, Lehrer und Nachbarn bildeten ein wichtiges Beziehungsnetz für ihre Söhne. Selbst wenn man für Liz nicht gleich einen Suchtrupp losschicken würde, das Verschwinden der Jungs bliebe sicher nicht unbemerkt. Man würde sich große Sorgen machen und befürchten, sie seien einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Das konnte sie ihnen nicht antun.
Wie es aussah, blieb ihr keine andere Wahl als abzuwarten und auf ein Wunder zu hoffen. Liz versuchte sich mit positiven Gedanken aufzumuntern: Vielleicht war die Chefin heute von einem Auto überfahren worden, und keiner könnte mit Sicherheit sagen, wieviel Geld sie abrechnen musste. Das wäre dann, ausnahmsweise ein Glücksfall. Doch diese Aussicht war kein Sonnenstrahl. Im Gegenteil, in ihr breitete sich erst recht Hoffnungslosigkeit aus und sie schluchzte. Wie sollte sie den fehlenden Betrag bloß erklären? Sie hatte ihn nur borgen wollen, bis die Bank ihr den erneuten Kredit bewilligte. Vielleicht, wenn sie ihrer Chefin alles erzählte, würde sie mehr Verständnis aufbringen und sie nicht fristlos entlassen.
Schweren Herzens öffnete sie die Tür zum Personaleingang eines der größten Warenhäuser im Land. Die kahlen Wände und die trostlose Einrichtung täuschten. Die Verkaufsseite war für die Kunden exquisit ausgestattet, da standen Mahagoni-Auslagetische, neben klassischen Marmorsäulen und man lief über edles Parkett. Die rückwärtigen Räume für das Personal, die Büros und das Lager waren dagegen in nüchternem Sichtbeton gehalten. Für Liz schien es wie die Fassade der amerikanischen Trabantenstädte. Man wollte dem Kunden die mondäne Welt der Reichen vorgaukeln, von der sie sich hier ein Stück kaufen konnten.
Tief in Gedanken versunken grüßte sie den Portier, hielt ihre Karte in die Stempeluhr, kontrollierte die aufgedruckte Zeit und steckte sie um. Sie stieg in den Lift, drückte wie immer die Eins für ihre Etage und dachte, ob sie das heute wohl zum letzten Mal tat. Hier war ihre Abteilung, ihr persönliches Reich, auf das sie immer mit Stolz geblickt hatte. Das modische Ambiente war nach ihren Ideen zusammengestellt worden und die prosperierenden Verkaufsumsätze gaben ihr Recht.
Als junge, aufstrebende Leiterin der Lingerie-Abteilung verkaufte sie Büstenhalter, Unterwäsche und passende Strumpfhalter. Seit fünf Jahren führte sie als energische Chefin ihr Team durch hektische und durch flaue Zeiten. Sie fühlte sich manchmal wie im Zoo mit all den Affen, die frei herumliefen. Und dann wieder wie eine Flugzeugpilotin, die mitten im Dschungel notlanden muss. Ihr Erfolgsrezept bestand darin, alle Aktivitäten, Rabatte und Aktionen zu kennen. Welches waren die neuesten Modelle und welche die Besten. Und was bot die Konkurrenz an?
Sie packt regelmäßig beherzte mit an und galt als eine tüchtige Arbeitskraft. Wenn sie dabei war, ging alles etwas schneller. Wo andere schritten, dribbelte sie. Wo andere sorgfältig Geld abzählten, raschelten die Noten in ihren flinken Finger. Impulsiv wie sie war, konnte sie förmlich explodieren. Aber - niemals vor den Kunden - war ihre Devise. In so einem Fall, was nur selten vorkam, schloss sie sich in ihrem winzigen Büro ein und schrie die Wände an. Dann war außerhalb nur ein undefinierbares Gezeter zu hören, das ihre Mitarbeiterinnen mit einem Schulterzucken hinnahmen.
Andere Frauen fühlten sich neben ihren Kurven weniger gehemmt. Und die männlichen Kunden sonnten sich gerne in ihrer Gegenwart. Das alles steigerte den Umsatz und damit ihren Erfolg. Doch es gab auch Tage, wo sie unsicher war und das Gefühl hatte, alle starrten auf ihre Oberweite oder auf ihren Hintern, aber das ging vorbei.
Liz hatte einen persönlichen Ehrgeiz die Körbchen-Größen ihrer Stammkundinnen auswendig zu kennen und wünschte sich, einmal ihre Namensvetterin, die Königin von England mit Unterwäsche einkleiden zu dürfen.
Unsicheren Ehemännern half sie gerne bei der Auswahl eines hübschen Dessous für ihre Liebsten. Da war dieser Kunde, der nach der Körbchengröße seiner Frau gefragt, ihr seine Hände hinhielt. »Ungefähr so groß.« Der Kunde ging zufrieden mit einem hübschen Ensemble in der Tasche und dem Versprechen, sollte die Größe nicht passen, er es ausnahmsweise umtauschen durfte.
Doch das, worauf sie sonst mit geschwelter Brust blickte, stimmte sie heute melancholisch. Würde das heute ihr letzter Arbeitstag werden? Sie wollte sich nichts anmerken lassen und wie immer, pflichtbewusst ihren Aufgaben nachgehen, bis zum bitteren Ende. Entschlossen öffnete sie die Kasse, zählte den Inhalt, ordnete anschließend sie Prospekte und füllte das Fach für die Einkaufstüten auf. Mit geübtem Griff richtete sie alles her, bevor der Laden geöffnet wurde. Dabei legte sie sich fieberhaft eine Erklärung zurecht, falls jemand den Fehlbetrag bemerkte. Und so übersah sie, dass die Kunden vor der geschlossenen Glastür auf und ab gingen.
»Liz, willst du heute niemand hereinlassen?«,