Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart. Kim Kestner

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Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart - Kim Kestner Zeitrausch-Trilogie

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Fleisch meiner linken Hand.

      Es ist überaus wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu treffen. Ich muss die letzte, die einzige Alison auf dem Schlachtfeld sein, die ungeteilte Aufmerksamkeit der Ports haben und die von Kay. Dann bleiben mir höchstens 60 Sekunden, um sie zu überzeugen, vielleicht aber auch nur 10.

      Ich klemme die Blutblase zwischen meine Finger und überdecke sie mit einem hellen Stück Fleisch, das ich mit zwei Sehnen um die Finger und mein Handgelenk binde.

      Zweifelnd blicke ich auf das Ergebnis. Aus der Nähe betrachtet wirkt es, als sei meine Hand geschwollen, aber ich habe nicht vor, die Ports so nah an mich herankommen zu lassen. Ich schicke noch einmal ein Stoßgebet zum Himmel, obwohl ich schon lange an nichts mehr glaube, was Gerechtigkeit verspricht, dann schließe ich die Augen. Also los …

      Regentropfen, der Hügel, das Gefühl, auf die Erde zu schlagen, erst der Arm, dann der Kopf, das Messer, das zu Boden fällt, eine Armlänge von mir entfernt, Stiefel, die den Speer in Kays Brust streifen, der Regenbogen …

      Jetzt!

      Ohrenbetäubender Lärm, Trampeln und Schreie stürzen auf mich ein. Der Hügel ist derart von Ports belagert, dass ich kaum noch Gras sehe oder was ihre Stiefel davon übrig gelassen haben. Ich meine, sie müssten sofort auf mich zustürmen, aber immer neue Rufe lenken sie ab. Mit angewinkelten Armen laufen die Männer in verschiedene Richtungen, schlagen Haken, finden sich wieder zusammen, zücken ihre Stäbe, nur um sich von den unzähligen Versionen meiner Selbst wieder ablenken zu lassen.

      Wie ein unendliches Echo hallen meine Rufe wider: »Hey, ihr Arschlöcher! Ich bin hier! Bin hier! Bin hier! Hier! Hier! …«

      Eine Alison prescht den Hügel hinab, direkt an mir vorbei und löst sich in Luft auf. Eine andere erscheint wenige Meter entfernt von mir und taumelt nur noch. Eine spätere Version. Ihr gehen die Kräfte aus.

      Kay! Wo ist Kay?

      Ich drehe mich im Kreis, versuche, mich zu orientieren.

      Jetzt haben die ersten Ports mich bemerkt und beginnen zu rennen. Uns trennen vielleicht 100 Meter, nicht mehr. Panik flammt in mir auf. Ich versuche, mich zu beruhigen, indem ich mich auf meinen keuchenden Atem konzentriere, das wild pumpende Herz, die Welle Adrenalin, die heiß durch meine Venen schießt. Zwecklos. Gegen meinen Willen steigen die Bilder in meinem Kopf auf, die mich hier rausbringen. Das kleine Mädchen. Meine Eltern … Denk an etwas anderes. Denk an … an … Ich spüre schon den Sog. Nicht. Nein!

      In diesem Moment löst sich eine Gruppe Ports voneinander, ich entdecke Kay und die Bilder zerfallen. Sein Kopf ist von mir abgewendet, der Speer steckt schräg in seiner Brust, wenige Meter weiter bricht eine Alison zusammen, gleich darauf eine zweite. Die Schreie werden weniger, das Echo verhallt. Oh Gott! Gleich ist es so weit!

      Ich sprinte los, rase zwischen zwei Ports hindurch und bin bei Kay. Es bleibt keine Zeit, ihn anzusprechen, aber ich weiß, dass er mich wahrnimmt. Er erinnert sich an diesen Moment.

      »Hey, ihr Arschlöch–«, höre ich meine Stimme von weit her und auf einmal ist es ganz still. Selbst das Trampeln der Stiefel hat aufgehört. Die Ports stehen einen Moment wie versteinert auf der Stelle. Ich reiße meinen Arm hoch, schreie: »Neeeiiiin!«

      Ihre Köpfe wenden sich alle im selben Augenblick zu mir, als wären sie geistig miteinander verbunden. Irre! Wahrscheinlich sind sie das sogar, über ihren Marker. Der Gedanke erschreckt mich, aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um darüber nachzugrübeln, was das für mich bedeutet. Ich darf nur an meinen Plan denken.

      Ohne Hast steuern die Männer auf mich zu. Sie wissen, wie sehr sie mir überlegen sind. Ich gehe in die Knie, um Kays Wange zu berühren. Er ist furchtbar blass. Wahrscheinlich wegen des vielen Blutes, das er verloren hat. Kay bewegt sich nicht, aber seine Lider flattern. Mein Gott! Was habe ich nur vor? Ein dicker Klumpen ballt sich in meinem Magen, wo eben nichts als Leere war. Meinetwegen wird Kay 2 Jahre leiden, so sehr, dass er irgendwann nur noch den Wunsch haben wird zu vergessen, dass es mich je gab. Und das nur, weil ich ihn glauben lasse, ich sei tot. Der Klumpen wiegt schwer wie ein Felsbrocken, der mich niederzwingt.

      »Verzeih mir«, flüstere ich und balle meine Hand zur Faust, als könnte ich den Felsbrocken damit zerquetschen. Ich wende meinen Blick von Kay ab, ziehe das Messer aus der Schlaufe meiner Hose und hole tief Luft.

      »Er stirbt! Er stirbt!« Ich kreische, meine Stimme überschlägt sich und hört sich unecht in meinen Ohren an. Wie aus einer billigen Seifenoper. »Ich kann das nicht mehr …« Ich wimmere. Zu leise. »Ich kann das nicht mehr!«, schreie ich und springe auf.

      Die Ports haben eine Wand gebildet. Ach was, vier Wände, die sich dunkel und drohend von allen Seiten immer näher schieben. Noch 20, vielleicht 30 Schritte sind sie entfernt und keiner von ihnen reagiert auf mein Schauspiel.

      Verdammt! Es wird nicht gelingen. Es interessiert sie nicht einmal. Doch es ist zu spät, meinen Plan zu ändern. Ich sehe einem von ihnen fest in die Augen. Er erwidert meinen Blick ohne Emotion und geht einfach weiter.

      »Ich kann das nicht mehr. Nicht ohne ihn!«, kreische ich und setze das Messer an.

      Kay krächzt etwas. Unwillkürlich sehe ich zu ihm. Blutblasen kommen statt Worten aus seinem Mund.

      Ich setze das Messer an meine Hand, strecke sie den Ports theatralisch entgegen und steche durch das Fleisch in die mit Blut gefüllte Blase. Nur wenig dunkelrote Flüssigkeit sickert hervor.

      Das Blut ist gestockt. Scheiße, verdammt!

      Die Männer sind jetzt so nah, dass ich nichts außer ihren schwarz gekleideten Körpern sehen kann.

      »Ihr kriegt mich nicht!«, schleudere ich ihnen entgegen.

      Keine Antwort, keine Emotion. Plötzlich ist mein Gehirn nur noch davon besetzt, wie lächerlich ich wirken muss. Meine Bewegungen werden fahrig, und als ich die Sehne durchtrenne, fallen der Fleischlappen und die Blase auf die Erde. So ein verfluchter Mist! Das war anders geplant. Das Stück Fleisch sollte nur blutend herabhängen, als hätte ich einen Teil meiner Hand fast abgetrennt.

      Ich starre auf das Requisit am Boden, dann wieder auf die Männer. Keiner der Ports verzieht eine Miene. Sie heben ihre Stäbe. Ich kann bereits ihren Schweiß riechen und lasse mich fallen.

      Viel zu spät. Noch bevor ich auf die Erde schlage, ist mir klar, dass mein Plan misslungen ist. Mein Schauspiel war erbärmlich. Niemand wird glauben, dass ich mir den Marker herausgeschnitten habe und mein toter Körper in seine Zeit zurückgekehrt ist.

      Niemand außer Kay.

       2.

      Sommer 1999, Nähe Mill Valley

      Meine Erinnerung trägt mich an meinen Zufluchtsort. Vielleicht bin ich in diesem Moment sicher, aber genauso sicher kann ich mir sein, die Ports erst recht auf mich aufmerksam gemacht zu haben. Falls sie wirklich systematisch alle Alisons ausschalten, die einen Marker tragen, habe ich mir mit meiner Aktion eben ein Leuchtschild umgehängt. Hallo, ich bin die richtige!, blinkt darauf. Obwohl, kann das überhaupt sein? Wieso ist Oscar derart überzeugt davon, dass ich die richtige bin, wenn es doch unzählige Alisons gibt?

      Ich blicke zum Strand und meine, jemanden gesehen zu haben. Aber die Gestalt ist schon wieder weg, bevor ich sie erfassen kann. Vielleicht war ich es. Vielleicht bin ich nicht zum letzten Mal hier.

      Plötzlich

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