Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart. Kim Kestner
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Inzwischen ist es mir unbegreiflich, wie diese Zukunft möglich sein soll. Darüber nachzugrübeln, überfordert mich restlos. Ich habe seit mehreren Tagen nichts gegessen, und mich zu konzentrieren, fällt mir ohnehin verdammt schwer. Entbehrungen bin ich gewohnt, aber inzwischen scheint in meinem Gehirn nur noch Matsch zu sein. Ich brauche jedoch nicht viel Verstand, um zu wissen, wie gefährlich diese Alternative wäre. Kay zu sehen, bedeutet, von den Ports niedergeschlagen zu werden, wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, noch bevor ich Kays Hand greifen kann, denn anders als zuvor werden sie mein Erscheinen erwarten.
Wieso nur kann ich nicht zu einem Augenblick zurückspringen, da ich mir sicher bin, dass niemand auf mich wartet, um mich zu töten? An den Anfang unserer Geschichte, den ersten Moment unserer Begegnung, oder nur ein paar Tage zurück, als Kay und ich in der Hütte am Feuer saßen und er mich eine Löwin nannte?
Voller Bitterkeit zerrupfe ich eine einsame Blume, die eben noch gelb neben mir blühte, und zerreibe sie zwischen meinen Fingern zu Brei. Wenn es nur nicht unsere Vergangenheit beeinflussen würde … Kay könnte nicht mein Scout werden, ich nie seiner, wenn ich in die Geschichte vor unserer letzten Begegnung eingreifen würde. Es muss danach sein und das wissen die Drahtzieher der Zukunft. Sam Oscar hatte recht: Die Ports werden ab der Sekunde, da ich Kay neben dem toten Bären zurückließ, jeden Augenblick überwachen. Aber sollte es mir trotzdem gelingen, sollte ich wirklich schneller als die Ports sein und fähig, Kay mit mir zu reißen, könnten wir gemeinsam in der Wildnis leben, zumindest solange der Störsender funktioniert.
Ich streiche mit der Fingerspitze über die glatte Oberfläche des silbernen Reifs. Bislang hat er mich vor den Unmenschen der Zukunft und ihren kranken Technologien abgeschirmt. Irgendwann wird der Sender womöglich kaputtgehen oder einfach ausfallen. Aber dann bräuchte ich mir ohnehin keine Gedanken mehr über eine Zukunft zu machen. Im selben Augenblick wären die Ports bei uns und sie könnten jedem unserer Sprünge folgen.
Ich ziehe die Beine dicht an meinen Körper und seufze tief. Ich will die Entscheidung nicht mehr aufschieben. Mir fehlt einfach die Kraft, weiter im Ungewissen zu leben, ohne Ziel und voller Zweifel. Ich muss meine Wahl treffen: ein Leben allein oder Sterben zu zweit. Nicht im schlimmsten, sondern im wahrscheinlichsten Fall ist genau das die Alternative.
Noch einmal blicke ich auf das Meer. Nur noch ein schmaler rosa Streifen ist am Horizont zu sehen. Gleich ist es dunkel und ich weiß nicht, ob das Mondlicht kraftvoll genug sein wird, mich sicher die Felsen hinunterzugeleiten, zurück in den Kiefernwald, zu dem Schotterparkplatz, über die Straße, zu dem entwurzelten Baum, unter dem ich die Nacht verbringen werde, bevor ich morgen früh mein neues Leben allein in der Wildnis beginne.
Die Luft scheint mit jedem meiner Schritte kälter zu werden. Und obwohl ich glaube, mit dieser Entscheidung leben zu können, fühle ich mich unendlich einsam. So schrecklich, schrecklich allein. Unwillkürlich male ich mir aus, wie es sein könnte, wenn ich mich doch für die zweite Variante entscheide, nur um ein wenig Wärme im Herzen zu spüren.
Ich sehe Kay betäubt auf dem Waldboden liegen, gleich neben ihm der tote Bär, dessen blutverschmierter Schädel vom Tomahawk gespalten ist.
Noch über die Steine und dann bin ich wieder auf dem Strand.
Kays weiches Haar. Es schimmert wie dunkle Bronze. Bei keinem anderen habe ich je eine solch wunderbare Farbe gesehen.
Weiße Schaumkronen hüpfen auf dem dunklen Wasser. Meine Füße sinken leicht im Sand ein.
Sein Geruch. Wie ein Kiefernwald nach einem Regenschauer.
Die Nacht bricht an. Aber der weiße Sand leuchtet im Mondlicht und führt mich zuverlässig am Wasser entlang.
Es müsste der Augenblick sein, da ich Kay verließ, um nach dem Jungen zu suchen. Allein bei der Erinnerung daran, Kay ohne Botschaft zurückgelassen zu haben, wird es eng in meiner Brust. Noch jetzt spüre ich meine Lippen auf seiner Stirn, bevor ich endgültig ging, meinen Schmerz und meine Angst, allein zu sein, wie–
3.
Winter 1852, Nevada, an der Grenze zu Kalifornien
Es reißt mich förmlich von den Füßen. Der Sog ist so heftig und unerwartet, dass mir wieder die Luft wegbleibt. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Oh Gott. Nein! Ich darf nicht … Ich Idiotin! Damit hätte ich rechnen müssen!
Noch bevor ich Luft holen kann, ist es taghell und kalt.
Die Ports!
Ich wirble im Kreis, stoße mit dem Ellenbogen gegen etwas Hartes, einen Körper, nein, einen dunklen Stamm. Der Wald ist voller Schatten. Jeder könnte ein Port sein.
Ich stolpere zwischen Tannen hindurch, reiße mein Messer aus der Schlaufe, stürze vorwärts. Mein Hals brennt plötzlich und erst da merke ich, dass ich mir die Seele aus dem Leib schreie. Ich presse mir die Hand vor den Mund.
Es ist ganz still. Nur das Hämmern meines Herzens kann ich noch hören und einen Specht, der seinen Schnabel im selben Rhythmus gegen einen Stamm schlägt. Das Messer halte ich immer noch umklammert, bereit zu töten. Meine Hand zittert dabei. Ach was. Mein ganzer Körper. Nirgendwo jedoch ist ein Port zu sehen. Nirgends! Aber … das verstehe ich nicht!
Kay! Ich muss ganz in seiner Nähe sein. Ihm galten meine Gedanken, bevor ich hierhergetragen wurde.
Langsam gewinnt mein Gehirn wieder Macht über meinen Körper und das Zittern weicht Anspannung. Ich lasse meinen Arm sinken und meinen Blick schweifen. Der Waldboden ist von Schneeflecken und Eis überzogen und nur dort, wo die Wipfel der Bäume die Erde überdachen, sind noch Tannennadeln zu sehen.
Ich bin mir sicher, zurück zu sein. Zurück im Jahr 1852 bei Kay, als ich ihn betäubt zurücklasse … Ich fühle es. Meine Angst mahnt mich, nicht hierzubleiben, woandershin zu springen, aber ich kann nicht. Nicht mehr. Nicht, da Kay ganz in meiner Nähe sein muss.
Bis aufs Äußerste angespannt schleiche ich in geduckter Haltung durch den Wald, achte darauf, dass kein Geräusch mich verrät, kein Ast unter meinen Füßen knackt, obwohl es lächerlich ist. Niemand scheint in meiner Nähe zu sein und wenn doch, würde meine Vorsicht kaum etwas nützen.
Ich folge meinem Instinkt, lasse mich von meiner Sehnsucht führen. Plötzlich höre ich leises Rauschen und halte inne, um mich zu orientieren. Das muss der Wasserfall sein! Oder sind es die Baumkronen? Ich blicke in den Himmel. Die vom Schnee schwer beladenen Äste der Tannen scheinen wie erstarrt. Es ist der Wasserfall! Ich kann nicht mehr weit entfernt sein von dem Lagerplatz, den ich vor über 2 Jahren verlassen habe.
Jetzt beschleunige ich meine Schritte, nestle das Messer zurück in die Schlaufe, beginne zu rennen, und schon bald wird das Rauschen zum Tosen herabfallender Wassermengen. Ich setze über Wurzeln, presche ungebremst unter tief hängenden Ästen hindurch, als ich aus den Augenwinkeln etwas wahrnehme. Etwas, das nicht hierherpasst. Ich bremse ab, laufe wenige Schritte zurück. Da! Tatsächlich! Ein großer Stiefelabdruck im Schnee. Ports? Sind sie doch da?
Mit angehaltenem Atem presse ich mich gegen einen Baum, eine, zwei qualvolle Minuten lang, bis ich die Luft nicht mehr anhalten kann, und konzentriere mich auf die Geräusche des Waldes. Doch sie könnten friedvoller nicht sein. Sogar ein Vogel lässt sich von der Kälte nicht abschrecken und singt. Nein. Niemand ist hier. Kein Port weit und breit.
Ich