Alter Mann im Bus. Bernhard Weiland
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In der Zeit vom 8. bis 15.Jahrhundert benötigten die frühen Könige und Kaiser Pfalzen wie in Goslar, um auf ihren Reisen durch ihre Herrschaftsgebiete angemessen Station machen zu können. Es gab noch keine Hauptstadt, noch kein herausgehobenes Machtzentrum. Deswegen waren diese Reisekönige oder Reisekaiser regelmäßig mit ihrem Hofstaat, einem großen Gefolge, von Pfalz zu Pfalz unterwegs. Davon kündet im Gewölbekeller des erhaltenen Pfalzbaus eine überaus interessante Ausstellung. Leider erfahre ich nur wenig über mittelalterliche Wegeverhältnisse und die Art und Weise, wie vor tausend Jahren mit einem königlichen Tross innerhalb eines Jahres mal soeben 4000 Kilometer zurückgelegt werden konnten. Eine ambitionierte Leistung, vor der ich alter Schlappinsland durchaus meinen Wanderhut ziehen kann. Über die Lebensverhältnisse der Menschen, die für das Funktionieren dieses Königspalastes sorgten, erfahre ich hier auch nichts. Bertolt Brecht mit seinem Gedicht, beginnend mit der Frage "Wer erbaute das siebentorige Theben?" schiebt sich in meine Erinnerung. Zusammen gedacht bekommen Kaiserpfalz und Rammelsberg dann doch einen tieferen Sinn.
Bier und Schnaps
Der angenehmere Gruß aus dem Mittelalter als die Geschichten von Schufterei und Herrscherränke ist mir das Gosebier. Benannt nach dem Harzer Fließgewässer, das Goslar den Namen gab und dem vor Zeiten das Wasser zum Bierbrauen entnommen wurde, genieße ich es zu deftigem Braunkohl mit Harzer Schmorwurst. Und genehmige mir danach einen doppelten Kümmel einer nahegelegenen Klosterbrennerei. Das Bier mundet mir besser. Die Gose nimmt in Goslar den Wasserlauf der Abzucht, dem früheren Abwassergraben des Bergbaus, auf und quert mit dem neuen Namen die Altstadt. Sie endet kurz darauf schon wieder im Stadtteil Oker in dem Flüsschen Oker. Ich spaziere diesen Wildbach entlang und bestaune von hier aus die alten Gemäuer des Ortes. Etwas entfernt der bunten, prahlenden Geschäfte und der sich gar nicht einfügen wollenden Betongestaltung großer Kaufhäuser inmitten der Weltkulturerbe-Altstadt, wirken Zusammenstellung und Architektur hier viel spannender. Weil organisch gewachsen. Steingewordene alte Handwerkskunst, die ich gleichsam atmen kann. Doch wie lange wird dieses Freiluftmuseum noch zu erhalten sein? Wie groß der Aufwand, dies alles noch einmal Jahrhunderte hinüber zu retten? Sei es wie es sei. Mich erfreut es jetzt. Noch schöner stelle ich es mir vor, zwischen Frühling und Herbst hier zu sein. Wenn Blattgrün und Himmelblau einen passenden Kontrast bewirken.
Nach zwei Tagen Weltkulturerbe ist das Kloster Wöltingerode Ausgangspunkt für meinen weiteren Weg den Harzrand entlang. Ich erreiche es mit dem 822er Linienbus. Das ehemalige Kloster beherbergt heute einige gewerbliche Betriebe wie auch ein Hotel mit Tagungsräumen. Die einzigen vom früheren Sakralbetrieb verbliebenen geistlichen Institutionen auf dem Gelände sind die heutige Kornbrennerei und die Klosterkirche. Außer der Hotel-Rezeption ist heute alles geschlossen. Ich weiß nicht, was mich dort zum Fremdkörper macht, aber ich werde von der Diensthabenden nicht wirklich ernst genommen. Sie ist offensichtlich nicht in der Lage, mir verlässliche Informationen in kundenzugewandter Weise zu vermitteln. Ich kann sie dann doch nötigen, mir zwei Flaschen Klosterbrand zu verkaufen und mache mich auf den touristischen Klosterwanderweg in Richtung Kloster Drübeck. Durch eine offene winterliche Felderlandschaft ziehe ich meinen Wanderanhänger bis nach Abbenrode an die sogenannte "Brücke der Einheit" über das Flüsschen Ecker. Seit Wiedelah bei Vienenburg verläuft mein Wanderweg auf dem sogenannten ‚Grünen Band‘. Dieses zieht sich entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze quer durch die Republik. Wie hier an der Brücke sollen sich allenthalben quer durch Deutschland weitere Infopunkte und kleine Museen befinden. Ganz schaffe ich die für Wandersleute beschriebene Tagesetappe nicht. Das Geläuf auf Feld- und Waldwegen ist mit meinem ‚Gepäcksulky‘ doch anstrengender zu bewältigen als gedacht. Es herrscht leichtes Tauwetter. Verharschter Altschnee wechselt sich mit glattgefrorenen Abschnitten ab, auf geräumte matschige Feldwege folgen brüchige tauende Eisflächen. In Abbenrode fährt mir der Bus vor der Nase weg. Also weiter nach Stapelburg. Den einzigen Menschen, der mir dort auf meinem Weg begegnet, treffe ich gerade noch rechtzeitig, um mir bei der Suche nach der Bushaltestelle helfen zu können. Es ist ein auf sein Smartphone fixierter Knabe, der mir, kaum von seinem Handy aufschauend, beim Ausführen seines Hundes präzise den Weg weisen kann:" Geradeaus die Straße runter". Anderthalb Sekunden Information ermöglichen mir, die Buslinie 260 pünktlich zu erreichen. Glück gehabt. So komme ich über Ilsenburg zur Haltestelle Drübeck-West. Nicht weit davon checke ich im geschichtsträchtigen und modern sanierten Kloster Drübeck ein.
Gottesmänner
Dieses evangelische Zentrum beherbergt gerade eine große Gruppe angestellter Kirchenleute aus der ganzen Republik, die sich in ihrer Gemeinde um die Arbeit mit Konfirmanden kümmern. Am letzten Abend sitze ich beim Essen an einem Tisch mit drei jungen Kirchenmännern. Sie unterhalten sich über das Organisieren und Ausrichten größerer Events mit allem Drum und Dran, um die ihnen anempfohlenen Schäfchen mit modernen zeitgemäßen Gemeinschaftserlebnissen näher an Gott und Jesus, an ihre Gemeinschaft der Gläubigen heran zu führen. Sie schwärmen von dieser und jener Veranstaltungsform, von einem tausende Jugendlichen fassenden christlichen Camp in den USA und von einem interessanten Zeltlager in Otterndorf. Otterndorf? Ich horche auf. Ich melde mich zu Wort. Ich 'oute' mich als touristischer Fremdkörper in ihrer sakralen Runde und bekenne, schon vor 54 Jahren als Teenager abenteuerliche Ferien mit der AWO in Otterndorf an der Niederelbe, durchflossen von der Medem, verbracht zu haben. Und erzähle kurz und knapp von guten alten Zeiten und natürlich von meinen aktuellen Reisen.
Zurück in meinem Zimmer stelle ich verwundert fest, dass mein Reise-Esel 'Easy Livin' schon wieder verschwunden ist. Zuletzt, so erinnere ich, sah ich meine kleine Handpuppe unterwegs beim Fotografieren. Das war in der Nähe von Abbenrode auf einer Sitzbank, die eine als Engelsflügel stilisierte Lehne hat, wie sie entlang des Klosterwanderweges so herumstehen. Habe ich meinen langjährigen Reisebegleiter, meinen Talisman, Glücksbringer und guten Geist gleichermaßen, dort unbegleitet zurückgelassen? Das sähe mir ähnlich. Mittlerweile ist er schon das dritte Exemplar, das mir über die Jahre auf die ein oder andere Weise „entlaufen“ ist. Da am letzten Tag ausreichend Zeit ist, will ich mit dem Bus noch einmal zurück nach Abbenrode, um mich auf die Suche zu begeben. Beim Verlassen des Klostergeländes treffe ich einen der Gottesmänner von gestern Abend. Wir verabschieden uns voneinander. Er wünscht mir eine gute Reise, auf dass ich immer finde, was ich suche und fragt, ob er mir Gottes Segen mit auf den Weg geben dürfe. Ich habe nichts dagegen und denke mir, wenns denn hilft. Ich interpretiere es als freundliche Geste.
Esel der Vierte
Im Bus sitzend, klingen mir seine Worte nach. Ich stutze, denke: Hhmm? Warum wünscht er mir, zu finden was ich suche? Von der Suche nach dem Plüschesel habe ich doch kein Wort erwähnt. Merkwürdig. Soll das etwa ein gutes Omen sein? Der Linienbus bringt mich fix in die Nähe des Ortes meines Verlusts. Als kurtaxezahlender Tourist nutze ich den Bus kostenfrei. Das finde ich sehr in Ordnung. Und ertrage geduldig die strenge Ticketkontrolle und Zurechtweisung durch den Busfahrer, mein Kurtaxezahlungsbeleg sei nicht korrekt ausgefüllt. Ich nehme an, er ist ein Vertreter der deutschen Spezies, die sich ständig über Bürokratie und aufgeblähte Verwaltungen aufregen. Um sie wiederum 150prozentig auf seine Weise zu imitieren.
Auf dem Weg zur ‚Engelsbank‘ entdecke ich in Abbenrode einen kleinen Dorfladen namens 'Abbotheke'. Ich bin begeistert. Auf dem ausgewiesenen Wanderweg vor zwei Tagen wurde ich noch am Dorf vorbeigeführt. Nun stehe ich mittags in einer Mischung aus Kiosk, Schnellimbiß, Bäckerei-Café und Tante-Emma-Laden. Die Chefin mit russischem Akzent in der Stimme braut mir einen Pott Kaffee. Dazu gibts ein frisch zubereitetes Brötchen mit Mett, hier Häckerle genannt, und Zwiebeln. Was will ich mehr. Sie ist vor Jahren der Liebe wegen hierhergezogen. Bis dahin war sie in Karlsruhe Leiterin einer Aldi-Filiale. In der neuen Heimat gab es für sie keine Arbeit. So realisierte sie mithilfe