Henkersmahl. Bärbel Böcker
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Florian konnte es nicht glauben, Max sollte tot sein? Sein Freund Max, den er von Kindesbeinen an kannte? Als seine Mutter ihm die Nachricht mitgeteilt hatte, fühlte er sich wie vor den Kopf gestoßen. Die Welt war versunken in einem dumpfen Strudel aus Blut, das sich mit Hochdruck durch seine Adern presste und an der Schläfe schmerzhaft zu pochen begann.
»Was ist passiert?« Er hatte seine Mutter entsetzt angestarrt, unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.
»Wissen die Ärzte auch noch nicht. Die Uniklinik hat bei Marianne angerufen.«
»Max? Tot? Max ist doch fit wie ein Turnschuh, das kann nicht sein.«
»Florian, es tut mir so leid. Es ist schrecklich.«
Marie-Louise war langsam von der Couch aufgestanden und hatte ihn zur Beruhigung tröstend in den Arm nehmen wollen, aber Florian konnte in diesem Moment keine Berührung ertragen, es war unmöglich. Er hatte sie schroff zurückgewiesen.
»Marianne braucht mich jetzt, ich fahre zu ihr«, hatte sie ihm nach einer hilflosen Pause mitgeteilt und mit hängenden Armen leise hinzugefügt: »Ich hoffe, du verstehst das.«
Er begleitete sie. Seine Mutter sah sehr blass aus, als sie im Taxi zu ihm sagte: »Den Sohn zu verlieren ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.« Dabei blickte sie angestrengt aus dem Fenster. Florian bemerkte, dass sie darum kämpfen musste, ihre Tränen zurückzuhalten. In diesem Augenblick kam er wieder zu sich. Bis zu diesem Moment hatte er sich wie in einem Kokon gefühlt, eingeschnürt in Sprachlosigkeit, die sich nun langsam auflöste. Wortlos legte er den Arm um die Schultern seiner Mutter und drückte sie sanft an sich.
Wie im Film liefen die Bilder vor seinem inneren Auge ab, und Florian wälzte sich in seinem Bett auf die andere Seite. Durch die Gardine, die er wie immer nicht ganz zugezogen hatte, fiel in einem schrägen Streifen helles Mondlicht. Florian atmete schwer. Er hatte den Eindruck, als habe sich langsam und hinterhältig eine Klammer um seine Brust gelegt, die ihm die Luft nahm. Er spürte, wie der Druck stärker und sein Atem flacher wurde. Mit einem Ruck setzte er sich auf, knipste die kleine Lampe an, die auf dem Fußboden neben seinem Bett stand und warf die Bettdecke zurück. Er zögerte kurz, doch dann stand er auf und ging hinüber zum Fenster. Die Holzdielen fühlten sich um diese Jahreszeit kalt an. Florian drehte die Heizung ein wenig auf, obwohl er Heizungsluft im Schlafzimmer eigentlich hasste, und zog die Gardine zurück. Sein Blick fiel auf die mächtige Kastanie, die seit mindestens 100 Jahren, wie der Hausmeister ihm erzählt hatte, im Hinterhof stand, und deren ausladende Äste sich ihm, wie es schien, vertrauensvoll entgegenreckten.
Florian dachte darüber nach, dass der Tod sie eines Tages alle erwischen würde, unwiderruflich. Den einen früher, den anderen später, und selbst die Kastanie würde daran glauben müssen. Vielleicht würde sie eingehen, weil eine Krankheit sie befallen hatte oder sie würde gefällt werden, weil ihr Laub von Jahr zu Jahr weniger Licht in die angrenzenden Wohnungen ließ und ihr Anblick den Bewohnern des Mietshauses lästig geworden war. Florian sah genauer hin, aber an den Ästen war keine Spur von Grün zu erkennen. Er hoffte, der Kastanie blieben noch ein paar Jahre Zeit.
Florian lehnte sich zurück an die Wand und starrte in die Äste. Max’ Bild tauchte vor ihm auf. Er sah ihn vor sich, wie er vor Barrick in der Redaktionskonferenz für die Sendung gekämpft hatte und wie er ihn angegrinst hatte, als er ihn zum Essen einlud. Er schloss die Augen, die Bilder verschwammen und wurden überlagert von dem Bild eines kleinen Jungen, der ihn mit seinen kurzen blonden Haaren, den Sommersprossen und den abstehenden Ohren anlachte, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand über Kreuz, zum Gruß erhoben.
Florian seufzte. Er erinnerte sich daran, wie sie als Zwölfjährige bei einem gemeinsamen Urlaub mit ihren Müttern in Österreich auf die Alm marschiert waren, nur Max, der Sohn des Hoteliers und er. Wie hatte der Hotelierssohn eigentlich geheißen? Florian fiel der Name nicht ein, aber das war ja auch nicht so wichtig. In jedem Fall hatte er den Auftrag gehabt, die Almhütte für den Sommerbetrieb vorzubereiten, denn seine Großmutter sollte dort über den Sommer Kühe und Ziegen hüten. Er hatte seine Urlaubsfreunde Max und Florian gefragt, ob sie nicht Lust hätten, ihn zu begleiten. Und natürlich hatten sie Lust gehabt, denn der Ausflug auf die Alm war etwas Besonderes, Außergewöhnliches, zumal kein Erwachsener dabei sein würde. Die Almhütte sollte aufgeräumt und geputzt werden und sie hofften, Ausbesserungsarbeiten vornehmen zu können, die sonst nur erwachsene Männer ausführten.
Sie hatten sich wichtig gefühlt und waren losgezogen mit prall gefüllten Rucksäcken, in denen sich Schüttelbrot, Bauernkäse, Obst und Wasser befand. Mit zittrigen Knien hatten sie pfeifend Wiesen überquert, auf denen Bullen weideten, und das letzte Stück des Weges ein Wettrennen veranstaltet. Wer als Letzter oben auf der Alm ankommen würde, sollte den Stall saubermachen, das war die Abmachung gewesen. Max und Ernst, jetzt fiel Florian der Name des Hotelierssohns wieder ein, hatten in Windeseile im Endspurt den letzten Abhang erklommen, während er selbst mit hängender Zunge hinterhergekeucht kam. Über Florians Gesicht ging ein Lächeln. Natürlich war er Letzter gewesen, wie immer, wenn es um sportliche Wettkämpfe ging. Als auch er endlich oben angekommen war, hatten Max und Ernst ihm eröffnet, dass die Alm verschlossen war. Ernst hatte den Schlüssel zu Hause im Tal liegen lassen, und so mussten sie sich etwas einfallen lassen, um überhaupt hineinzukommen. Um nicht wieder umkehren und den beschwerlichen Aufstieg ein zweites Mal machen zu müssen, hatte Ernst schließlich kurzerhand ein Fenster eingeschlagen. Sie hatten beratschlagt, wer hindurchkriechen sollte, denn das Loch mit den scharfen, gezackten Glasscherben sah sehr gefährlich aus, aber Max hatte bald beschlossen, dass dies sein Part sei, er sei schließlich der Kleinste. Heldenhaft hatte er sich durch das Fenster gezwängt und beiden die Tür geöffnet, nachdem er innen einen zweiten Schlüssel gefunden hatte.
Florian zog sich der Magen zusammen, als er daran dachte. Max war tot. Sein bester Freund.
Max war mutig gewesen, bereits als kleiner Junge. Er hatte damals stark geblutet, weil er sich an den Spitzen der zerbrochenen Fensterscheibe verletzt hatte, aber irgendwann war es ihnen gelungen, den Blutfluss mit Handtüchern zu stoppen. Max hatte weder geflucht noch gejammert. Die Narbe, die an seinem Ellenbogen zurückgeblieben war, hatte sie auch als Erwachsene stets an ihr Abenteuer erinnert. Und die Finger hatten sie bis heute manchmal zum Gruß gekreuzt.
Florians Füße waren inzwischen eiskalt geworden. Fröstelnd zog er die Gardine zu und legte sich wieder ins Bett. Ein Blick auf den Wecker zeigte, dass es bereits 4 Uhr war.
Als seine Mutter und er bei Marianne angekommen waren, hatten sie eine völlig verstörte Frau vorgefunden, die so stark weinte, dass sie kaum ein Wort herausbrachte. Erst nachdem Marie-Louise einen befreundeten Arzt gebeten hatte, vorbeizukommen, um ihrer Freundin eine Beruhigungsspritze zu geben, war Marianne dazu in der Lage gewesen, zu berichten, was sie wusste. Max war gegen 21.15 Uhr bewusstlos in den Waschräumen eines Fitnessstudios gefunden worden, nachdem er ungefähr eine Stunde dort trainiert hatte. Der Inhaber hatte sofort den Notarzt alarmiert, aber der konnte nur Max’ Tod feststellen.
Florian setzte sich wieder halb auf und starrte an die Wand. Das Licht der kleinen Lampe wirkte seltsam tröstlich auf ihn. Gab es einen Zusammenhang zwischen Max’ Tod, den unerklärlichen Krankheitsfällen der vergangenen Tage und seinen Recherchen? Vielleicht hatten aber auch seine Recherchen über die rivalisierenden Kölner Jugendbanden etwas mit seinem Tod zu tun. Florian verspürte ein alarmierendes Gefühl in der Magengegend, das ihm seit der Nachricht von Max’ Tod die Eingeweide zusammenzog. War Max umgebracht worden? Wahrscheinlich sah er Gespenster. Florian knipste resolut das Licht der Nachttischlampe aus. Außerdem hatte Marianne erzählt, dass Max in den letzten Tagen über Herzrasen geklagt hatte und vorgehabt habe, deswegen einen Arzt aufzusuchen. Wahrscheinlich war