Grimmelshausen. Dieter Breuer
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II
Wie Simplicissimus in der Jupiterepisode auf die Möglichkeit der politisch-sozialen Utopie gestoßen wurde, so während seiner Pilgerreise nach Santiago de Compostela, das er nie erreicht, auf die Möglichkeit, fernab von der europäischen Gesellschaft, ganz für sich, einen eigenen Weg zu einem Leben in Frieden und Glück zu finden. Das ist Thema der Continuatio in den Kapiteln 19–23.
Simplicissimus beabsichtigt, mit einem portugiesischen Schiff von einem Hafen am Ausgang des Roten Meeres um das Kap der guten Hoffnung herum nach Lissabon zu gelangen. Auf der Höhe von Madagaskar gerät das Schiff in ein schweres Unwetter, das Schiff geht unter. Er und ein Schiffszimmermann treiben die ganze Nacht hindurch hilflos an eine Planke geklammert in der aufgewühlten See, bis sie im Morgengrauen an eine unbekannte und, wie sich herausstellt, unbewohnte kleinere Insel getrieben werden. Sie finden eine üppige, paradiesische Vegetation und Vogelwelt, auch das lebensnotwendige Süßwasser. Grimmelshausen, der Meister des „vollkommenen“ Erzählens, der „naturalen“ Beschreibung, vergegenwärtigt nun in all den Umständen, die wir in Romanen des 18. Jahrhunderts, aus Joh. Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731) und Daniel Defoe’s Robinson Crusoe (1719), wiederfinden, die Lebensweise der beiden Schiffbrüchigen, die sich auf ihrer Insel einrichten und mit Erfindungsreichtum ihr Überleben sichern. Die literarischen Quellen, auf die Grimmelshausen sich stützen konnte, sind bekannt. Es ist die Sammlung von Seefahrerberichten der Brüder de Bry, Orientalische Indien (Frankfurt a.M., 1601, hier der 5. Band, mit der Schilderung eines Schiffbruchs vor der Insel Mauritius (Do Cerne) im Indischen Ozean.238
Aber Grimmelshausen beläßt es nicht bei der Darstellung des äußeren Vorgangs. Der Reiz der Episode besteht gerade darin, daß der aufmerksame Leser auf den geistlich-allegorischen Sinn des Geschehens gestoßen wird, ohne daß der Literalsinn dadurch gestört würde. Man beachte die verwendeten Bildzeichen und Topoi:
– „die wüttenden Wellen des zornigen Meers“ sind zugleich ein traditionelles Sinnbild der Gottferne und des Bösen;
– wenn um „Mitternacht“ sich der Sturm legt und der Himmel klar wird, so ist dies ein topisches Bildzeichen der Heilsstunde: gemeint ist die geistliche Mitternacht;
– der „liebliche Geruch“ des Eilands ist ein topischer Hinweis auf die Heiligkeit des Ortes bzw. die Gnade Gottes.239
Um religiöse Erfahrung geht es denn auch hier: Dargestellt wird die eigentliche Bekehrungs- bzw. Begnadigungserfahrung des Ich-Erzählers, seine Glaubenserfahrung. Erst auf der Insel, als hilflos Gestrandeter, ohne sein Zutun, kann Simplicius wieder ebenso naiv-gläubig beten, Zwiesprache mit Gott halten wie in seiner Kindheit beim Einsiedel und in der ersten Zeit im Feldlager (ST II), ja stückweise nähert sich der Text der Form des betrachtenden Gebets, wie sie Augustinus seinen Confessiones zugrundegelegt hat. Daß die Insel durch den Reichtum der Natur einem Schlaraffenland gleicht, zum Müßiggang und zur Acedia anreizen könnte, stellt für Simplicius – den „Wiedergeborenen“240 – keine Gefahr mehr dar, wohl aber für seinen Gefährten, den Zimmermann; dieser erliegt prompt der Verführung durch die ebenfalls schiffbrüchig an den Strand getriebene schöne Abessinierin und trachtet dem nichts ahnenden Simplicius nach dem Leben, um dann mit dieser Frau die Insel in Besitz zu nehmen und mit ihr eine zahlreiche Nachkommenschaft zu zeugen: so der teuflische Plan. Als Simplicius bei der gemeinsamen Mahlzeit „nach christlichem und Hochlöblichen Brauch das Benedicite“ spricht, das Kreuzzeichen über die Speisen und die beiden Verschworenen macht („den Göttlichen Segen anruffte“), verschwindet mit einem Schlag die Frau und hinterläßt einen „grausamen Gestank“.241 Spätestens dies weist sie als verkappten Buhlteufel aus, der Simplicius vergeblich bedroht, so wie er die frühchristlichen Einsiedler in der thebaischen Wüste vergeblich bedroht und versucht hat. Dem zum Glauben erweckten Simplicius kann er nichts mehr anhaben, wohl seinem Gefährten, dem Zimmermann Simon Meron. Dieser wird von Simplicius zwar mit großer Mühe wieder zurecht gebracht, verfällt dann aber trotz des von Simplicius initiierten gemeinsamen „Gottseeligen Lebens“ der Acedia, der Melancholie, flüchtet sich in Palmweinräusche und stirbt bald, obwohl die beiden auf ihrer Insel leben könnten „wie die Leut in der ersten güldenen Zeit“.242 Noch nach seinem Tode findet Meron keine Ruhe, sondern muß spuken, weil er sich von seinen 30 Dukaten, vom Geld, nicht trennen konnte. Simplicius hatte sich ja schon in seiner Einsiedelei auf dem Mooskopf konsequent vom Geld gelöst.
Die äußeren Lebensbedingungen des exotischen Paradieses allein verändern also noch nicht den Menschen. Um wie im goldenen Zeitalter bzw. wie im Paradies leben zu können, müßte der Mensch sich entsprechend verändert haben, müßte im Stande der Unschuld sein. Bereits durch die Kontrastierung der beiden Inselbewohner stellt der Autor die Utopie in Frage. Er verfolgt freilich noch ein anderes Ziel. 1668, als die Continuatio gedruckt werden sollte, erschien in Frankfurt die deutsche Übersetzung der satirischen Flugschrift The Isle of Pines des Engländers Henry Neville.243 Dieser hatte als Vorlage für seine Paradieseskonstruktion gleichfalls de Brys Orientalische Indien benutzt. Grimmelshausen sah sich oder wurde von Verlagsseite genötigt, auf diese Neuerscheinung in seiner Inselutopie kritisch einzugehen, was – nebenbei – den überhasteten Druck der Continuatio erklären würde.244 Neville hatte den biblischen Garten Eden sozusagen säkularisiert und erotisiert. Er läßt seinen Helden George Pines mit vier Gefährtinnen auf der unbewohnten fruchtbaren Insel stranden. Unter diesen Frauen, mit denen Pines innerhalb von zwanzig Jahren eine Nachkommenschaft von 1789 Personen erzielt, ist auch die schwarze Magd, die wir bei Grimmelshausen finden. Indem Grimmelshausen sich ostentativ auf die frühchristlichen Eremitenlegenden bezieht und die Frau als personifiziertes Laster auftreten und verschwinden läßt, setzt er sich von Nevilles positiver Darstellung von Polygamie und Blutschande kritisch ab.
Auch ist die paradiesische Insel der Continuatio noch nicht das verlorene Paradies, wie wir sahen, der Garten Eden, wo gestrandete Europäer wie die ersten Menschen vor dem Sündenfall leben könnten. Grimmelshausen gibt aus christlicher Sicht die Gegendarstellung zu Nevilles verlockender säkularer, frühaufklärerischer Darstellung des Paradieses. Das irdische Paradies ist und bleibt verloren. Was Simplicius, nun wieder Einsiedel, vorfindet, ist ein Ort der Bewährung wie jeder andere Ort auch: „hastu doch […] sonst niemand zum Feind als dich selbsten und dieser Jnsul Uberfluß und Lustbarkeit.“245 In der Weltabgeschiedenheit dieser seiner zweiten Einsiedelei wird ihm klar, daß die Bedrohung nicht von außen, sondern von innen kommt: durch seine eigenen „variablen“ Gedanken.
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