Grimmelshausen. Dieter Breuer

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Grimmelshausen - Dieter Breuer

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sich die jüdischen Gemeinden der Residenzstädte, aber auch die Landjudenschaften, die Zusammenschlüsse kleinerer, armer jüdischer Landgemeinden, zeitweilig regenerieren und relativ sicher leben. Andererseits haben gerade die Hofjuden durch die ihnen geneidete Nähe zum Monarchen die Aversionen und den Haß gegen die Juden insgesamt eher bestärkt. Hinzu kamen soziale Spannungen innerhalb der Judenheit selbst, die das bis dahin intakte Gemeindeleben beeinträchtigten. Unterhalb der anpassungsbereiten, von Fürstengunst bestrahlten gebildeten Schicht der Hoffaktoren, Gemeindevorsteher und Ärzte, die an italienischen oder niederländischen Universitäten (meist Padua oder Leiden) studiert hatten, ab 1678 auch an der kurbrandenburgischen Universität Frankfurt (Oder), ab 1767 auch im josephinischen Wien studieren konnten,183 – unterhalb dieser privilegierten Schicht gab es die breite Masse der gemeinen Juden, deren traditionelles religiöses Bildungsniveau absank: die typisch jüdischen Handwerker und Tressenmacher, Gold- und Silbersticker und Petschierstecher, dann die oft genug am Rande des Existenzminimums lebenden kleinen Viehhändler, Trödler, Geldwechsler und Pfandleiher, schließlich die Betteljuden und Banditen, d.h. diejenigen, die die hohen Steuern und Gebühren für Aufenthalt oder Wohnrecht nicht mehr aufbringen konnten und auf der Straße lagen.184 Durch Zuwanderung nach den polnischen Pogromen seit 1649 nahm die Schicht der zwischen Städten, Märkten und Dörfern wandernden jüdischen Händler, aber auch der Betteljuden noch zu. Auf ihre Kontrolle und Schröpfung verwendeten die Obrigkeiten viel repressiven Scharfsinn, bis hin zur Geburtenkontrolle durch Heiratsverbot für alle nachgeborenen Judenkinder, seit 1726 in Böhmen und Mähren, später auch in Preußen, in der Pfalz und im Elsaß.185

      Schwerer noch als durch die inneren sozialen Gegensätze wurde die gesamte Judenheit, nicht nur die des Reiches, in ihrer religiös verankerten Identität und in ihrer traditionellen Lebensweise durch ein religiöses Ereignis erschüttert: die enttäuschte Messiaserwartung von 1666.186 Die Leidenszeit der großen Vertreibungen der spanischen und portugiesischen Juden und Marranen seit 1492 sowie vor allem der polnischen Juden hatte hochgespannte messianische Heilserwartungen und eine breitere Hinwendung zur Mystik und zum Wunderglauben der Kabbala hervorgetrieben. Diese Erwartungen schienen in Erfüllung zu gehen, als 1648 in Smyrna ein Kabbalist namens Sabbatai Zwi auftrat, für das Jahr 1666 die Ankunft des Messias errechnete und 1665 sich mit großer Resonanz selbst als der Messias ausgab und das Zeichen zur allgemeinen Rückkehr ins Heilige Land gab. Vom Sultan vor Gericht gestellt, trat er, um sein Leben zu retten, zum Islam über. Dieses schockierende Ereignis stürzte die Juden in eine langwierige schwere Glaubenskrise, die durch die Anhänger Zwis, die Sabbataisten, noch verschärft wurde und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht bewältigt werden konnte. Die Sabbataisten suchten die „fremdartigen Taten“ Zwis, seine unmoralische, gesetzeswidrige Lebensweise kabbalistisch zu rechtfertigen und zu beschönigen. All das mußte die christliche Seite zu neuem Hohn und Haß sowie zu verstärktem Bekehrungseifer anreizen.

      Die Geschichte der jüdischen Minderheit im frühneuzeitlichen Europa ist, wie man schon aus diesen wenigen Daten ersehen kann, eine Leidensgeschichte, auch wenn die Pogrome in Westeuropa abnahmen und erste Ansätze dauerhafter Duldung zu verzeichnen sind. Wie wenig sich aber ungeachtet dessen in der Einstellung zu den Juden verändert hatte und wie wenig sich auf Dauer ändern konnte, zeigt ein Blick auf die in der Tendenz gleichbleibende, aber immer effektivere Indoktrinierung der Gesamtbevölkerung mit Hilfe der neuen Druckmedien.187 Mit enormer Breitenwirkung und erfinderischer Aktualisierung wurden so die alten Verleumdungen wie Ritualmord an Christenkindern, Hostienschändung und Brunnenvergiftung wachgehalten. Der im 17. Jahrhundert in Tirol sich etablierende Kult des seligen Anderl von Rinn, eines angeblich im 15. Jahrhundert von blutgierigen Juden ermordeten Christenknäbleins, ist erst im Jahr 1985 vom zuständigen Ortsbischof untersagt worden.188 Johann Heinrich Zedlers „Grosses Vollständiges Universal-Lexikon“, die Summe frühneuzeitlichen gelehrten Wissens und unentbehrliches Nachschlagewerk des Frühneuzeitforschers, führt im Artikel „Juden“ (Bd. 14,1,1735) allen Ernstes die ganze Verleumdungstradition aus lutherischer Sicht zur gefälligen Weiterverwendung auf:189

       Kinder des Teuffels sind sie, Joh. 8,44. Und des Satans Schule. Apoc. 2,9. 3,9. […] die Grund-Articel, worauf der allein seligmachende Glaube gebauet ist, und den Sohn Gottes, Jesum Christum, verlästern sie auf das allergreulichste; wenn sie ihn nennen, speien sie aus, und legen ihm über dieses lauter Götzen-Titel und alle Schand-Namen bey; dergleichen sie auch uns Christen thun, wie denn kein Laster-Name zu ersinnen ist, den sie uns nicht aufzuhefften pflegen. Sie sind unsere geschworne Feinde. Und wie offt haben sie nicht Christen-Kinder geschlachtet, gecreutziget, im Mörser zerstossen. Sie sind die ärgsten Diebe, und Betrug ist ihr eigentliches Wahrzeichen, Alle Mahl schwören sie falsch, wenn sie gleich die entsetzlichsten Eide ablegen müssen. […] Seit Jerusalem zerstöret worden, haben sie nie kein Königreich, noch Fürstenthum, noch Republic aufrichten können, wird auch in Ewigkeit nicht geschehen. Sie müssen ihren Hals unter das Joch fremder Obrigkeit beugen, und ihre Schultern neigen zu aller Bürde, die ihnen harte Herren auflegen wollen. Ja, GOTT hat sie auch in der Natur gezeichnet: Gewiß, ein Juda hat etwas an sich, daran man ihn bald erkennen, und von andern Menschen unterscheiden kann. Sie sind einem ein Eckel und Grauen, und Stanck und Unflat machet sie abscheulich, wie ihnen gedrohet worden. Deut. 28,37.46. Das härteste aber über die Juden ist dieses, daß ihre Verwerffung ewiglich währet. […] Sie machen sich zwar mächtig breit mit ihrem goldenen Affen, und suchen einen gewaltigen Trost darinnen, Leu. 26,44. Allein der Trost gehöret weiter nicht vor sie, als in so ferne sie sich bekehren. […] Da sie […] nun bey nahe 1700 Jahr verstossen sind, müssen sie unendlich grössere Sünden, als ihre Väter, begangen haben [die nur 70 Jahre in Gefangenschaft waren], Freylich, denn sie haben den Sohn GOTTES getödet, und den HERRN der Herrlichkeit gecreutziget. Dessen Blut drücket sie noch, und erfüllet das Urteil, welches sie sich selbst sprachen. […] Entsetzlich sind die Flüche, welche ihnen ps. 69,23 seq gewünschet werden […].

      Dieser Artikel wurde 1735 zensurfrei gedruckt. So alt die Topoi dieses Verleumdungsarsenals damals schon waren, sie haben auch im 19. Und 20. Jahrhundert noch ihre Wirkung getan. Das war, wie gesagt, möglich auch durch die Entwicklung der neuen Druckmedien seit 1450. Die Geschichte der Druckmedien ist von Anfang an auch die Geschichte der Einschärfung der Topoi des Judenhasses, der antisemitischen Propaganda.190 Eine gelehrte „Bibliotheca Hebraea“, eine Bibliographie vom Anfang des 18. Jahrhunderts, verzeichnet mehr als 1000 damals aktueller Scriptores Anti-Judaici.191 Das betrifft die Gelehrten. Damit nicht genug; gerade die breitenwirksamen Medien Flugschrift, illustrierter Einblattdruck, neue Zeitung, aber auch Handwerkertheater und Schultheater und, besonders effektiv, die für alle verpflichtende Sonntags- und Festpredigt schürten auf vielfältige Weise, in allen Gattungen Judenhaß und bestärkten Vorurteile über Minderwertigkeit und Bosheit der Juden.192 Unter den Gelehrten erwies sich der Heidelberger Orientalist Eisenmenger als besonders renitent: Sein Entdecktes Judentum oder gründlicher und wahrhaftiger Bericht über die traditionellen Judenhaßtopoi wurde aufgrund einer Intervention Samuel Oppenheimers, des kaiserlichen Hoffaktors in Wien, nach dem Erscheinen in Frankfurt 1700 verboten und beschlagnahmt, erschien aber bald darauf unbehelligt und erfolgreich im preußischen Königsberg (außerhalb der kaiserlichen Zensurgewalt).193 Selbst ein Voltaire mußte sich 1762 von einem niederländischen Juden, Isaac de Pinto, den Widerspruch zwischen seiner aufklärerischen Kritik an den Methoden der spanischen Inquisition und seiner eigenen unverantwortlichen antijüdischen Polemik vorhalten lassen:194

       Ist denn der von der Feder angerichtete Schaden weniger verderblich als die Flammen des Scheiterhaufens? Ist dieses Übel dadurch, daß es sich auf die Nachkommenschaft vererbt, nicht noch verzehrender als das Feuer? Und was hat diese unglückliche Nation von dem blind wütenden Pöbel zu erwarten, wenn die barbarischen Vorurteile selbst von dem ruhmreichsten Genie unseres aufgeklärten Zeitalters geteilt werden?

      Es gibt in der frühen Neuzeit nur wenige Autoren, die diesem Anspruch an kritisches Schreiben gewachsen waren, und ganz selten begegnen wir einem Autor, der dieser Intention in der Volkssprache und an Jedermann gerichtet, gerecht zu werden versuchte.195 Zu diesen Seltenen gehörte Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen.196

      III

      Zwei

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