Baltrumer Bärlauch. Ulrike Barow

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Baltrumer Bärlauch - Ulrike Barow

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Arm nehmen zu können, wog den Verzicht auf ihren heiß geliebten Mittagsschlaf auf.

      Als sie aus dem Wohnzimmer zurück in die Küche kam, saßen Eva und Benni bereits auf der Eckbank und schauten sie erwartungsvoll an. »Tante Gerdje, guck mal, was wir dir mitgebracht haben.« Vier kleine Hände hielten ein Glas mit einer undefinierbaren grauen Masse darin fest umklammert.

      »Was um alles in der Welt ist das?« fragte sie und beugte sich dicht darüber.

      »Das ist Schlick. Direkt aus dem Wattenmeer. Wir haben heute Morgen ganz früh mit der Schule eine Wattwanderung gemacht.« Ein kräftiger Geruch nach Fisch und Tang unterstrich ihre Aussage. »Und kuck mal, da unten drin, das ist ein Wattwurm. Toll, nicht?«

      »Na ja«, sagte Gerdje nachdenklich. »Der Wattwurm ist schon toll. Habe ich ewig nicht mehr gesehen. Früher­ sind wir oft durchs Watt nach Neßmersiel gelaufen. Aber das macht kaum noch einer. Nur die Wattführer mit ihren Gästen. Aber mal ehrlich, glaubt ihr nicht, dass der Wurm in seiner natürlichen Umgebung besser aufgehoben ist als hier in diesem Glas?«

      »Klar, Tante Gerdje. Wir wollen ihn nur Onkel Hinnerk zeigen, dann bringen wir ihn wieder zurück.« Ernsthaft nickten die beiden und schauten zu Hinnerk Claassen, der gerade zur Küchentür herein kam.

      »Ihr wollt doch wohl nicht alleine ins Watt und den Wurm wieder aussetzen? Kommt gar nicht in Frage. Da gehe ich mit.« Hinnerk nahm das Glas in die Hand und schaute es sich von allen Seiten an.

      Gerdje blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.Hinrich bot sich freiwillig für etwas an? Sie konnte sich nicht erinnern, dass er jemals mit seinen Enkeln etwas Ähnliches unternommen hatte. Und an noch etwas konnte sie sich nicht erinnern, nämlich dass sie ihren Mann in der langen Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, jemals anders als ›Hinnerk‹ genannt hatte. So wie alle ihn riefen, die ihn kannten. Jetzt überraschte sie sich immer öfter damit, dass sie ›Hinrich‹ dachte und sagte, der Name, der in seinem Pass stand und der nur bei offiziellen Anlässen benutzt wurde. Hatte sie sich innerlich so weit von ihm entfernt? Nach all den Jahren?

      In den Anfangsjahren ihrer Ehe, als Hinrich ein ganz anderer Mensch gewesen war, da war er mit seinen Kindern stundenlang draußen am Wasser gewesen, so oft es seine knapp bemessene Freizeit erlaubt hatte. Damals war er beim Amt für Küstenschutz für den Buhnen­bau und die Inselsicherung zuständig gewesen. Hatte mit seinen­ Kollegen Strandhafer in den Randdünen­ angepflanzt und Sandschutzzäune aus Birkenreisern aufgestellt. Nach Feierabend hatte er all die Dinge erledigt, die rund ums eigene Haus zu tun waren. Eine Arbeit, die nie ein Ende zu nehmen schien. Bis zu dem Tag, als seine Bandscheibe das ewige Bücken nicht mehr mitmachen wollte. Eine Operation wurde fällig, dann die nächste und nach einem Jahr des Krankseins folgte der Status, den er nie verwunden hatte: Frührentner.

      Das hat ihn kaputt gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Gerdje, aber andere stehen wieder auf. Machen das Beste draus. Er eben nicht. Hat seine ganze Familie verurteilt, sein Frührentnerselbstmitleid zu ertragen, und wundert sich, wenn die dagegen aufbegehrt.

      Nur sie selbst hatte eigentlich noch nie so recht aufbegehrt. Mal ein paar Worte, das schon, aber die hatten alles nur schlimmer gemacht. So hatte sie wieder geschwiegen und sich um ihren Garten gekümmert. Dort hatte sie ihre Ruhe.

      »Aber erst werden Hausaufgaben gemacht, dann könnt ihr ins Watt.« Gerdje versuchte, Fröhlichkeit in ihre Stimme zu legen, aber so ganz wollte es ihr nicht gelingen. »Das Wasser fällt langsam wieder. Also, was habt ihr auf?«

      »Heute nur lesen«, sagte Benni. »Und ein Gedicht auswendig lernen. Die ersten sechs Strophen. Stell dir das mal vor, Tante Gerdje, sechs Strophen! Wenigstens ist es spannend, glaube ich. Es handelt von einem Schiff, das untergeht, mit Menschen drauf. Das heißt Nils Rannda oder so ähnlich.«

      »Nis Randers«, verbesserte ihn Eva sofort. Sie war die Bessere in Deutsch, wogegen ihr Bruder in allen Mathefragen zu Hause war. »Krachen und Heulen und berstende Nacht, Dunkel und Flammen in rasender Jagd – ein Schrei durch die Brandung«, Eva hatte sich auf die Eckbank gestellt und deklamierte mit lauter Stimme.

      »Aus, Schluss!« Benni hielt sich die Ohren zu. »Lass uns lieber in den Garten gehen und Tante Gerdje helfen«.

      Die aber schüttelte den Kopf. »Nichts da, ihr macht Hausaufgaben, ich klare die Küche auf, dann höre ich euch ab, und dann könnt ihr mit Onkel Hinnerk ins Watt. Mein Unkraut gehört mir, da hat kein anderer was dran zu zupfen.«

      Benni lachte: »Ist doch klar, wir wollten dich auch nur ein bisschen ärgern. Jeder weiß, dass man in deinen Garten nicht rein darf.«

      »Genau so ist das. Mein Garten – mein Heiligtum. Bis auf die Liegewiese. Die ist für alle da. Sogar für unsere Gäste.« Nun musste sie doch lachen, besonders wenn sie an ihre Lieblingswerbung im Baltrum-Prospekt dachte. ›Sonnige Liegewiese‹ stand da immer wieder, und stets fragte sie sich, was der Vermieter wohl machte, wenn die Sonne gar nicht schien, der Gast aber ebendiese ›sonnige Liegewiese‹ einforderte. Solarien aufstellen vielleicht?

      »Aber erst einmal werde ich gleich eure Mutter besuchen. Ich muss noch eine Kleinigkeit einkaufen. Also dann, an die Arbeit.« Sie stand auf und räumte das Geschirr vom Tisch auf die dunkelbraune Arbeitsplatte, der man die vielen Jahre des Gebrauchs ansehen konnte. Immerhin hatte Hinrich trotz seines Geizes kapituliert, nachdem Gerdje das Abwaschen des morgendlich anfallenden Geschirrs der Frühstücksgäste von ihm verlangt hatte. »Falls es dein Rücken zulässt«, hatte sie sanft gesagt. Eine Woche später hatte er die Spülmaschine einbauen lassen und konnte wieder seine Rückenschmerzen pflegen.

      Nachdem sie ihre Küche so gut es ging auf Hochglanz gebracht hatte, schnappte sich Gerdje ihr Fahrrad, um ihren Einkauf zu erledigen.

      Auf der Höhe des Deichschartes beim Haus Oase kam ihr Olga Nammen entgegen. Gerdje stöhnte innerlich auf. Das konnte eine lange Viertelstunde werden.

      »Hallo Gerdje, na wo geiht?«, tönte Olgas lautes Organ über den Hellerweg. »Willst einkaufen?«

      »Nee, den Hund ausführen«, rief ihr Gerdje entgegen, was Olga abrupt vom Fahrrad springen ließ.

      »Hund?«, rief sie und schaute sich verwirrt um. »Ich seh’ keinen Hund. Weiß Hinrich das?«

      »Erstens: War’n Scherz. Zweitens: Is mir völlig egal. Sonst noch was?«

      Olga Nammen atmete erleichtert aus. »Gott sei Dank, hatte schon Angst … Wieso, völlig egal? Dann ist dir wohl auch plötzlich egal, dass du deinen heiß geliebten Bunker wieder an die Gemeinde zurückgeben musst?«

      Gerdje merkte förmlich, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Kurz meinte sie, ohnmächtig zu werden. Gleichzeitig sah sie ein hämisches Grinsen in Olgas Gesicht aufleuchten.

      »Bunker? Was soll das? Außerdem ist das kein Bunker­, sondern ein alter ausgedienter Flakstand aus dem letzten Krieg.«

      »Nun tu man nicht so gelehrt, Gerdje, das weiß ich auch. Aber wir haben da ja immer Bunker zu gesagt. Und ändern tut das auch nichts an der Sache, oder?«

      Gerdje bemühte sich verzweifelt um Fassung. Olga mochte eine Tratschtante sein, aber meistens steckte ein wahrer Kern in ihren Sprüchen. Jetzt nur keine Schwäche zeigen. Nur keine Neugier.

      »Wenn du gar nicht wissen willst, wieso ich das weiß, dann ist es dir ja wohl wirklich egal, oder?« Olga Nammen­ schaukelte fröhlich mit ihrem Oberkörper hin und her.

      Noch einmal ›oder‹ und ich brech ihr das

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