Baltrumer Bärlauch. Ulrike Barow

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Baltrumer Bärlauch - Ulrike Barow

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ihrer prächtigen Orgel an.

      Am nächsten Tag wartete er bereits ungeduldig auf seine Kutsche, als Wilhelm Fokken hereinkam. »Sie haben Glück, heute fährt der Postbus nach Neßmersiel, so ersparen Sie es sich, in der kalten Kutsche zu sitzen. Sehen Sie«, er zeigte nach draußen, »dort steht er schon. Er fährt zwei Stunden vor Ablegen des Schiffes los, denn es kann immer sein, dass das Schiff wegen schwankender Wasserverhältnisse etwas früher als im Fahrplan ausgedruckt die Leinen lösen muss. Nun kommen Sie. Ich trage Ihren Koffer.«

      Am kleinen Hafen unterhalb des Fährhauses lag das Schiff bereit zur Abfahrt. Er sah, dass außer ihm noch ein paar andere Gäste die Überfahrt antreten wollten. Auch ein wenig Fracht wurde noch geladen. Dann ging es unter Segeln durch einen gewundenen Priel Richtung Wattenmeer. Das Wetter war klar, und bald schon konnte er die Silhouette der Insel mit den kleinen Insulanerhäuschen in der Ferne liegen sehen. Kapitän Eilts, so hatte der Schiffsführer sich vorgestellt, hatte ihm erzählt, dass das Schiff bis zur Buhne M des Schutzwerkes fahren würde, von dort könne man ganz bequem in einem kurzen Fußmarsch die Insel erreichen.

      Bertelsmann hatte vor der Reise einen Brief von seinem Vermieter erhalten, der seine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht hatte, dass jemand mitten im Winter­ Baltrum besuchen wolle. Dennoch hatte der Mann versprochen, ihn an der Buhne abzuholen, und ihm ein Zimmer in seinem kleinen Hotel zur Verfügung zu stellen. Frühstück, Mittagessen und Abendessen wird in der geheizten Küche bereitgestellt, hatte er am Schluss seines Briefes geschrieben. Und mit Hinrich Janssen Küper, Hotelier unterschrieben.

      Inga schlug verschlafen die Augen auf. Der Zug fuhr gerade langsam in den Emder Bahnhof ein. Glück gehabt, dachte sie, hätte ich nur ein wenig länger geträumt, wäre ich womöglich erst in Norddeich aufgewacht, und das wäre für meine Reise nach Baltrum ganz bestimmt nicht günstig gewesen.

      Den Rest der Fahrt verbrachte sie damit, die Felder und Wiesen zu bewundern, die sich rechts und links des Schienenstranges bis zum Horizont erstreckten. Ab und zu fuhren sie durch einen der kleinen ostfriesischen Orte. Marienhafe las sie. Hatte hier nicht der berühmte Pirat Klaus Störtebeker im Kirchturm gehaust und zusammen mit den Ostfriesen der Hanse die Stirn geboten?

      In Norden am Bahnhof stand der Bus schon bereit. Inga machte es sich auf einem Fensterplatz gemütlich. Am Marktplatz stiegen noch einige Leute ein, beladen mit Einkaufstaschen und voll bepackten Rollwagen. Bald entspann sich unter den Zugestiegenen eine angeregte Unterhaltung. Das müssen Insulaner sein, kombinierte Inga messerscharf, denn sie verstand nicht ein einziges Wort. Sie stammte zwar aus Schleswig-Holstein, konnte aber kein Plattdeutsch. Das kann ja heiter werden, dachte sie. Hoffentlich verstehen die mich auf der Insel überhaupt!

      Nach einer knappen halben Stunde sah sie den Hafen vor sich. Eine große Fähre legte gerade an, und ein kräftiger Wind wehte ihr beim Aussteigen um die Nase. Inga bestieg das Schiff und schaute sich auf dem Oberdeck um. Die meisten der blauen Bänke waren noch leer, obwohl herrlicher Sonnenschein dazu einlud, die Überfahrt draußen zu genießen.

      Auf einer der Bänke saß eine junge Frau, die viele bunte Schleifchen in ihre knallrote Mähne geflochten hatte, und lächelte Inga an. Sie machte einen so offenen und freundlichen Eindruck, dass Inga das Gefühl hatte, sie schon ewig zu kennen. »Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ich heiße Inga Tarmstedt.«

      »Ich bin Lena Schirrmacher. Sie wollen sicher Urlaub machen.«

      Inga nickte. »Ja, und ein bisschen Recherche betreiben. Ich folge den Spuren eines Künstler, der hier gewesen sein soll.«

      »Ich besuche meine Großeltern«, erklärte Lena Schirr­macher. »Habe zwei Wochen Urlaub und spontan beschlossen, die Insel könnte mir mal wieder ganz gut tun. Wir vermieten auch. Zimmer mit Frühstück. Oma hat bestimmt was frei. Haben Sie schon ein Zimmer?«

      »Ja, ich habe im Ostdorf eine kleine Ferienwohnung gemietet. Im Haus Seegras.«

      »Ach, das ist ja super. Das Haus von meinen Großeltern liegt gleich gegenüber. Dann können wir uns morgens beim Zähneputzen zuwinken.« Lena lachte. »Lassen wir doch das blöde ›Sie‹. Ich bin Lena. Sollen wir uns mal auf ’nen Kaffee treffen? Wie wär’s morgen um drei im Kluntje?«

      Inga war froh, gleich so eine nette Bekanntschaft gemacht zu haben. »Wenn du mir nun auch noch erklären würdest, wo das Kluntje ist? Bin neu hier.«

      »Klar doch, du läufst einfach Richtung Osten, am Friedhof vorbei und dann links über den Deich. Gleich dahinter ist das Café.« Lenas ausgestreckter Arm zeigte eine für Inga undefinierbare Richtung an. Trotzdem versprach Inga: »Ich werde pünktlich da sein.«

      Als das Schiff auf Baltrum anlegte, fragte Lena: »Wirst du abgeholt, oder willst du deine Sachen mit bei uns auf die Wippe stellen, ich meine natürlich unsere kleine Transportkarre?«

      »Frau Meyer hat gesagt, sie stände mit einer Wippe« – Inga lachte und betonte das Wort ›Wippe‹ deutlich, »und einem Namensschild vor der Brust am Hafen. Lasse mich also überraschen. Bis bald.«

      *

      Schon als sie die hintere Gangway der Baltrum I herabstieg, sah Lena ihre Großmutter aus der Ferne winken. Sie winkte zurück, und eine große Freude erfasste sie bei dem Gedanken, ihre Oma gleich in die Arme schließen zu können. Opa war natürlich nicht mit zum Hafen gekommen. War wohl zu viel verlangt. Aber er würde schon früh genug ihre neue Frisur missbilligend in Augenschein nehmen, mit seinem typischen verständnis­losen Kopfschütteln wieder zum Strand latschen und nach drei Stunden mit einer Karre voll zusammengesuchtem Strandgut wieder auf der Matte stehen.

      »Oma, Oma!« Mit ausgebreiteten Armen lief sie auf die wartende Frau zu, sobald sie festen Boden unter den Füßen spürte.

      »Mensch, Lena, ist das schön, dass du da bist.«

      Lena sah Tränen in den Augen ihrer Großmutter. »Was ist denn mit dir los? So nah am Wasser gebaut kenne ich dich gar nicht. Ist irgendwas? Du siehst müde aus.«

      »Ach was, gar nichts ist los. Ich bin nur froh, dass du da bist. Und ein bisschen geschafft von der Saison. Die vielen Monate ohne einen freien Tag, das geht an die Nieren. Aber reden wir nicht davon. Komm, pack deine Sachen in die Wippe. Du weißt ja: Der Weg ins Ostdorf ist lang, aber schön.«

      Lena nahm ihren Koffer aus dem Container, schaute sich nach ihrer neuen Freundin um und sah, dass deren Vermieterin zur Stelle war. »Wir können los. Wie geht es meinem muffeligen Großvater?«

      »Ach, gut. Wie immer.«

      Lena betrachtete sie argwöhnisch. »Oma, was ist los? Du hast doch was.«

      »Es ist alles in Ordnung, mein Kind, glaube mir. Hast du gehört, dass neulich ein Film hier gedreht worden ist? Über die Theatergruppe?«

      »Nein, erzähl mal.«

      Und Gerdje erzählte alles, was sie über die Filmaufnahmen wusste. Trotzdem wurde Lena das Gefühl nicht los, dass ihre Oma ganz andere Dinge auf dem Herzen hatte als das, was sie ihrer Enkelin als aufregende Neuigkeit verkaufen wollte.

      *

      Inga hatte ihrer Vermieterin kurzerhand das Fahrrad mit der Wippe aus der Hand genommen und gesagt: »Sie zeigen mir den Weg und ich schiebe das Rad. Sind schließlich meine Koffer hintendrauf.«

      Frau Meyer hatte daraufhin erfreut genickt. »Manche Gäste kämen gar nicht auf den Gedanken, mir die Arbeit abzunehmen. Aber ich will mich nicht beklagen«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln.

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