Baltrumer Bärlauch. Ulrike Barow
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Читать онлайн книгу Baltrumer Bärlauch - Ulrike Barow страница 10
Eine Antwort blieb ihr im Halse stecken, denn vor ihr stand der größte und stabilste Mann, den sie je gesehen hatte. Sein wuchtiger Oberkörper wurde von einem verschwitzten grünen Muskelshirt der Größe XXXL verhüllt, seine stämmigen Beine schauten aus zerfransten kurzen Hosen hervor. Sein Kopf reichte fast bis zur Decke des Schuppens und seine Breite nahm die Hälfte des Raumes ein. Wie kann solch ein Schlachtschiff derart filigrane Arbeiten herstellen, schoss es ihr durch den Kopf
»Äh … Sie … Wolfgang … Ich bin Inga«, stammelte sie, während aus seinem Bauch, der sich etwa in ihrer Kopfhöhe befand, ein Grummeln zu hören war, das sich langsam verdichtete, nach oben stieg und in einem dröhnenden Gelächter endete.
»Komm rein und setz dich. Ich mache Platz, soweit das möglich ist.« Er räumte ein paar Äste und Stücke von hölzernen Bohlen zur Seite. »Du willst also das Reich bestaunen, in dem meine Arbeiten entstehen?«
Inga nickte. Ihre Aufmerksamkeit war von zwei Objekten gefesselt, die auf einer alten Teekiste standen. Es waren zwei knorrige Holzstämme, die eine Hälfte unbearbeitet, die andere glatt poliert. Die Stämme neigten sich einander zu und Inga erwartete, dass sie sich jeden Moment umschlingen würden.
Vorsichtig nahm Wolfgang Meyer sie hoch und stellte sie direkt vor Inga auf der Arbeitsplatte wieder ab. »Es ist Strandholz. Ich bekomme es von dem alten Hinrich Claassen, unserem Nachbarn. Der ist jeden Tag an der Wasserkante und sammelt. Normalerweise betrachtet er seine Sammlerstücke als sein Heiligtum, aber wenn ich ein paar Taler springen lasse, darf ich mir die Stücke aussuchen, die ich brauche. Ich schaue sie mir immer genau an, und manchmal habe ich das Gefühl, so ein Stück Holz spricht zu mir, wenn es da auf der Wippe liegt. Und dann muss ich es einfach mitnehmen und bearbeiten.«
Aufgeregt nickte Inga. »Das kenne ich. So geht es mir auch. Ich hab zwar noch nie mit Strandholz gearbeitet, ich bearbeite meistens abgelagerte Obstgehölze aus dem Alten Land, aber es ist wirklich so. Man baut eine Beziehung zu dem Stück auf, oder?«
Strahlend schaute Inga Wolfgang Meyer an, und der strahlte zurück. Inga erzählte von dem Stipendium und dass sie die Skulpturen von Waldemar Otto zu ihren absoluten Favoriten zählte. »Für mich ist er der Größte unter den zeitgenössischen Bildhauern. Und stell dir vor, er wohnt auch in Worpswede. Wenn ich vor einer seiner großen Figuren stehe, habe ich das Gefühl, dass ich niemals, wirklich im ganzen Leben nicht ansatzweise so gut sein werde wie er. Seine Figuren leben, so versteht der zu modellieren. Und sag mal ehrlich, sollte man sich mit weniger zufriedengeben?« Versonnen starrte Inga Wolfgang Meyer an.
»Soll das heißen, dass du an dir zweifelst?«, fragte er behutsam.
Zögernd sagte sie: »Ich weiß nicht. Ich glaube zwar fest daran, dass ich Talent habe. Aber wird das reichen? Bis jetzt haben mich meine Eltern mit ihrem Glauben an mich und auch mit Geld unterstützt. Dann kam das Stipendium. So lässt sich natürlich leicht sagen: Ich bin Künstlerin. Aber jetzt klopft der Ernst des Lebens an. Ohne Geld läuft nun mal leider nichts. Und ich glaube nicht, dass ich dafür geschaffen bin, als Eremit im Wald Kräuter und Würmer für mein tägliches Leben zu sammeln.«
Gedankenverloren nahm Inga einen der Stämme in die Hand und strich leicht darüber. »Ich spiele mit dem Gedanken, mich an der Düsseldorfer Kunstakademie einzuschreiben. Dort kann ich Kunst auf Lehramt studieren. Also etwas Handfestes. Andererseits träume ich natürlich davon, mich in meinem eigenen Atelier ganz und gar meinen Skulpturen widmen zu können. Damit ich mich immer weiterentwickeln kann. Bis ich irgendwann … Aber schau …« Inga zog ihr Handy aus der Tasche und öffnete es. »Ein paar Bilder meiner Arbeiten. Viel kannst du aber nicht darauf erkennen.«
Wolfgang Meyer schaute sich die Bilder eine ganze Zeit lang an, dann nickte er. »Du hast wirklich Talent. Besonders die Eule gefällt mir. Wenn man das Tier betrachtet, meint man, dass es aus seinen großen Augen intensiv zurückblickt. Und das, obwohl ich nur ein kleines Foto vor mir habe. Ich würde mir gerne mal deine Arbeiten im Original ansehen. Hast du Gelegenheit, deine Werke auszustellen?«
Inga freute sich. Wie immer, wenn da jemand war, der ihre Arbeiten verstand. »Ja, in Lübeck hat eine Freundin von mir einen kleinen Laden in der Fußgängerzone. Dort stehen meine Figuren. Sie hat schon ein paar verkauft, aber leben kann ich davon, wie gesagt, nicht. Noch nicht. Jetzt geht es aber erst einmal um deine Werke«, sagte sie fröhlich.
Als Frau Meyer ihren Mann zwei Stunden später zum Abendessen rief, blickten sich die beiden verwundert an.
»Schon so spät? Na, dann lass deine Frau nicht warten. Wir können unser Gespräch ein anderes Mal fortsetzen. Ich bin immerhin eine Woche hier.« Erst als Inga aufgestanden war, merkte sie, wie unbequem sie auf dem schmalen Hocker gesessen hatte. Sie rieb sich ihr schmerzendes Hinterteil und lachte. »Das nächste Mal bringe ich ein Kissen mit, wenn’s recht ist.«
»Das nächste Mal kannst du mir helfen. Ich komme mit dieser Skulptur nicht so richtig weiter.« Er zeigte auf einen knorrigen Ast, der auf der Erde in der Ecke lag.
»Mach ich gerne, aber nur mit Ideen. Schnitzen musst du schon selber. Wäre ja noch schöner, eine Figur aus vierer Hände Arbeit.«
»Warum nicht, könnte ganz spannend sein. Bestimmt fast eben so spannend wie der Gedanke, was heute auf dem Abendbrottisch steht.«
Die beiden gingen ins Haus, Wolfgang Meyer in die Küche zu seiner Frau und Inga auf ihr Zimmer. Ein unangenehmes, hohles Ziehen in ihrem Magen erinnerte sie daran, dass sie seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen hatte.
*
Leonard schrak auf. Manfred hatte sich an ihn herangeschoben und flüsterte ihm zu: »Heute Nachmittag war es viel erfolgreicher am Strand.«
»Was meinst du damit?«, flüsterte er überrascht zurück.
»Da haben Bernd und ich das Mädel getroffen, das wir vor dem Sturmeck kennengelernt haben. Die sieht echt gut aus, so im Bikini. Hat gemeint, sie braucht’n Kick, und dann hat sie …«
»Manfred, halt die Schnauze und konzentrier dich auf deine Arbeit«, tönte Karstens Stimme über den Strand.
Manfred zuckte zusammen und nahm schweigend seine Suche wieder auf. Auch Leonard schaute angestrengt nach unten, um Karsten keine Angriffsfläche zu bieten. Er hatte schon genug unter Karstens verbalen Attacken zu leiden. Da waren ›Schwuli‹ und ›rosa Unterhöschen‹ noch die harmlosesten Ausdrücke. Wenn Karsten nun auch noch das Gefühl bekäme, er, Leonard, stände nicht mehr hinter ihrer Aufgabe, wäre es überhaupt nicht mehr auszuhalten. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass diese Aktion ein voller Erfolg würde. Dann könnte er endlich Schluss machen. Denn der Wortwechsel hatte ihm wieder einmal klargemacht, dass ihre vom Boss aufgezwungene Gemeinschaft den Bach runterging. Immer und ewig würde sich jedenfalls keiner von ihnen Karstens Druck beugen. Zumal Karsten selbst den Auftrag von Anfang an vermasselt hatte.
Was hatte das Mädel wohl mit ›Kick‹ gemeint? Ihn beschlich ein diffuses Unwohlsein, wenn er an sie dachte. Sollte es gar nichts mit Einfühlungsvermögen zu tun gehabt haben, was sie vor dem Sturmeck über die Truppe gesagt hatte? Hatte sie Bernd und Manfred am Strand zu verstehen geben wollen, dass sie über ihren Auftrag Bescheid wusste?
Aber weshalb? In wessen Auftrag? Quatsch! Alles Blödsinn! Einbildung!
Er würde Manfred noch einmal fragen, was sie genau gesagt hatte. War sicher ganz harmlos. Oder doch nicht? Er wusste es nicht. Er reagierte im Moment auf nichts