Das Sandmann-Projekt. Anette Hinrichs
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Читать онлайн книгу Das Sandmann-Projekt - Anette Hinrichs страница 2
In seinem Kopf überschlugen sich Gedanken und Bilder, führten ihn weit zurück in die Vergangenheit, an einen anderen Ort, in eine andere Zeit.
Er öffnete die Augen. Noch immer regnete es Bindfäden. Sein Herz raste, als er mit zittrigen Händen das Schlafzimmerfenster schloss, den Blick auf die Ziffern in seinem Rasen gesenkt.
Dann schalt er sich selbst einen Narren. Jemand hatte sich einen Spaß erlaubt. Mehr nicht.
Kurt ging zurück ins Untergeschoss. Seine Tasse stand noch immer auf dem Beistelltisch im Wohnzimmer. Der Kaffee war kalt.
Hinter ihm wurde die Haustür aufgeschlossen. Kurt sah auf seine Armbanduhr. Pünktlich auf die Minute. Sein Puls normalisierte sich. Er lächelte. Die Fantasien eines alten Mannes.
Als er sich umdrehte, sah er direkt in die Augen seines Gegenübers. Urplötzlich kam die Angst zurück.
2
Das Kleid saß perfekt, das Make-up war dezent, sogar an ein Geschenk hatte sie gedacht. Dennoch nagte ein unbehagliches Gefühl an Malin. Thies wollte sie heute seiner Mutter vorstellen. In ihren Augen war es dafür viel zu früh. Sie waren erst seit zwei Monaten ein Paar. Was würde danach kommen? Erwartete er, dass sie ihn mit ihrer Mutter bekanntmachte? Bei der bloßen Vorstellung sträubten sich ihr die Nackenhaare.
Und hinterher? Eine gemeinsame Wohnung? Heirat? Kinder? Das ganze Programm?
Einen Moment spielte Malin mit dem Gedanken, alles abzusagen, dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf und schlüpfte in ihre hochhackigen Sandaletten. Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Anschließend griff sie nach dem kleinen Päckchen mit den sündhaft teuren Pralinen und ging über die schmale Wendeltreppe ins Untergeschoss.
Malin hatte das hundertfünfzig Jahre alte Bleicherhaus im Stadtteil Winterhude vor einigen Jahren von ihrer Tante geerbt. Die achtzig Quadratmeter Wohnfläche verteilten sich auf vier Zimmer mit niedrigen Decken und einem winzigen Garten. Die Einrichtung war schlicht und schnörkellos. Alter Dielenboden, weiß getünchte Wände, viel helles Holz und Möbel aus Korbgeflecht. Spätestens im Winter war eine neue Heizanlage fällig, über deren Finanzierung sie sich seit Wochen den Kopf zerbrach. Ihr Gehalt als Kriminalkommissarin war nicht gerade üppig.
Handy und Türglocke klingelten gleichzeitig. Malin eilte in den Flur und öffnete.
Thies Conradi sah unverschämt gut aus. Er hatte das blaue Sportsakko ausgesucht, das die Farbe seiner Augen hatte, dazu trug er lässige Jeans. Seine Haut war von der Sonne tief gebräunt und brachte seine blonden, mit grauen Strähnen durchzogenen Haare zum Leuchten. Er lehnte sich an den Türrahmen und lächelte Malin verschmitzt an. »Was habe ich nur für eine attraktive Frau an meiner Seite.« Er bemerkte das Päckchen mit dem Etikett der exklusiven Confiserie in Malins Hand. »Mutters Lieblingspralinen? Sie wird dich lieben.«
»Das will ich doch schwer hoffen.« Malin erwiderte sein Lächeln. Es ist nur ein Essen, dachte sie. Kein Termin beim Standesamt. Also keine Panik.
Im Hintergrund klingelte noch immer ihr Handy. »Willst du da nicht langsam mal rangehen?«, fragte Thies amüsiert.
Sie zog das Handy aus ihrer Umhängetasche an der Garderobe. Das Display zeigte die Nummer von Kriminalhauptkommissar Hans Fricke, ihrem Vorgesetzten beim LKA 411, der Hamburger Mordkommission.
»Brodersen?«, brummte ihr Frickes Stimme ins Ohr. »Ich weiß, du hast frei – aber wir brauchen dich.«
Malin musste sich zusammenreißen, um keinen Seufzer der Erleichterung auszustoßen. »Eigentlich hatte ich schon etwas vor«, entgegnete sie halbherzig. Thies hob die Augenbrauen.
»Wir haben eine Leiche, Brodersen. Und ein Personalproblem.«
»Ich komme, Chef.« Malin beförderte Stift und Zettel aus ihrer Umhängetasche und notierte die Adresse, die Fricke ihr durchgab.
»Du musst ins Präsidium?«, fragte Thies, kaum, dass sie das Telefonat beendet hatte.
»An einen Tatort. Tut mir leid.«
Er löste sich vom Türrahmen und trat einen Schritt auf Malin zu. Thies überragte sie um mehr als eine Kopflänge. »Warum habe ich nur das Gefühl, dass dir das nicht ganz ungelegen kommt?«
»Wie kommst du darauf?« Malin legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. »Ich mache nur meinen Job. Es hat rein gar nichts mit deiner Mutter zu tun.« Sie war eine schlechte Lügnerin.
Thies beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie. »Also gut. Aber wir holen das nach.« Er sah ihr fest in die Augen. »Ich will dich nur meiner Mutter vorstellen, Malin. Damit sie sieht, was für eine wunderbare Freundin ich habe. Ich hatte nicht vor, dich zum Traualtar zu schleppen und hinterher in Ketten zu legen.« Er zwinkert ihr zu und verschwand.
Malin blieb mit rotem Kopf zurück. Dann fiel ihr Blick auf den Zettel in ihrer Hand und sie streifte die hochhackigen Sandaletten ab. Es wurde Zeit, sich umzuziehen.
Eine halbe Stunde später bog Malin in ihrem alten grünen Mini in den verkehrsberuhigten Teil des Schleusenredders in Wohldorf-Ohlstedt. Die mit Kopfstein gepflasterte Straße grenzte direkt an den Wohldorfer Wald. Vor dem letzten Grundstück parkte ein Streifenwagen, auf dem geschotterten Gehweg daneben standen weitere Dienstfahrzeuge der Polizei. Malin stellte ihren Mini hinter dem silberfarbenen Transporter der Spurensicherung ab, nahm einen Satz Schutzkleidung aus dem Kofferraum und zeigte dem uniformierten Beamten neben dem Einsatzfahrzeug ihren Dienstausweis.
Eine etwa zwei Meter hohe, akkurat gestutzte Thujenhecke schützte die Bewohner des weitläufigen Grundstücks vor neugierigen Blicken. Der Kies knirschte unter Malins Füßen, als sie die lange Auffahrt entlang auf ein schlichtes Spitzgiebelhaus mit moosbesetzten Dachschindeln zuging. Auf der weiß verputzten Fassade prangten zahlreiche Verfärbungen. Sonne blitzte zwischen den dunklen Wolken hervor und die Buchsbäume vor dem Hauseingang warfen spitze Schlagschatten auf den Weg wie eine Armee gesichtsloser Zinnsoldaten.
Vor der Haustür mit dem eingelassenen Gitterfenster stand ein weiterer Uniformierter. Er grüßte Malin knapp, ohne sich von der Stelle zu bewegen. »Herr Glaser hat mich angewiesen, hier niemanden ohne Schutzkleidung reinzulassen.« Seine Augen streiften das Kleiderbündel in Malins Hand.
Frank Glaser war der Leiter der Spurensicherung, ein mürrischer, wortkarger Typ mit verkniffenem Gesichtsausdruck, der sein Territorium eisern gegen sämtliche Fremd-DNA verteidigte. Ein Mann, den man besser nicht verärgerte. Malin schlüpfte in Spurensicherungs-Overall, Latexhandschuhe und blaue Überschuhe.
Ein schwerer, süßlicher Gestank schlug ihr entgegen, als sie die großzügig geschnittene Diele betrat. Sie stülpte sich den Mundschutz über.
Alter Fliesenboden, Landschaftsbilder auf vergilbter Raufasertapete, ein Konsoltisch aus Kirschholz und ein altmodischer Garderobenständer, an dem ein einzelner dunkelblauer Blazermantel hing. Vier Türen gingen vom Flur in weitere Räume ab, eine schön geschwungene Holztreppe mit ausgetretenen Stufen führte ins Obergeschoss. Am Fuß der Treppe kniete ein Kriminaltechniker.
»Manchmal wünsche ich mir einen anderen Job.« Ein großer, schlaksiger Mann erschien in einer der angrenzenden Türen und musterte Malin aus wasserblauen Augen. Ole Tiedemanns restliches Gesicht war inklusive der sandfarbenen Haare unter Mundschutz und Kapuze versteckt.